Falsch abgebogen

Die Impfpflicht im Gesundheitswesen hat außer Angst und Ärger bei Beschäftigten wenig bewirkt

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 9 Min.

Krankenpfleger war nicht der Wunschberuf. Lars Grundmann* träumte von einer Arbeit als Zirkusdirektor oder Fotograf. Weniger exotisch wäre eine Ausbildung im Bereich Biotechnologie gewesen. Das klappte nicht. Ein Krankenhaus, bei dem er angefragt hatte, bot ihm an, Pfleger zu werden. Grundmann hat die Berufswahl nie bereut, auch wenn sie bedeutet, dass er seit mehr als zwei Jahrzehnten im körperlich und seelisch belastenden Drei-Schicht-Rhythmus arbeitet. Trotzdem liebt Grundmann seinen Beruf. Er habe »kein Helfersyndrom«, betont er, aber er könne Mitmenschen in Notsituationen zur Seite stehen. »Es ist ein sinnstiftender Beruf, der wichtig für die Gesellschaft ist.«

Wie wichtig seine Arbeit allerdings der Gesellschaft ist, hat er sich im vergangenen Dreivierteljahr wiederholt gefragt. Neun Monate lang schwebte das Damoklesschwert eines Tätigkeitsverbots über Grundmann – weil er nicht gegen Corona geimpft ist. Am 15. März trat in Deutschland eine »einrichtungsbezogene Impfpflicht« in Kraft, die der Bundestag im Dezember 2021 beschlossen hatte.

Der neue Paragraf 20a des Infektionsschutzgesetzes, dessen Gültigkeit aktuell bis Ende 2022 befristet ist, sieht vor, dass Beschäftigte in Krankenhäusern, Arztpraxen, Pflegeheimen und bei ambulanten Pflegediensten nachweisen müssen, dass sie über einen ausreichenden Impfschutz gegen Sars-Cov2 verfügen oder von einer Infektion genesen sind. Anderenfalls können die kommunalen Gesundheitsämter nicht nur Bußgelder verhängen, sondern den Betroffenen sogar das Betreten ihrer Arbeitsstätte »untersagen«, wie es im Gesetz heißt. Seit ihn das Amt kurz vor Ostern aufgefordert habe, entsprechende Nachweise zu erbringen, hatte er »existenzielle« Sorgen, sagt Grundmann. Es stand im Raum, dass er nicht mehr auf einer Station arbeiten darf.

Die Impfpflicht wurde beschlossen, nachdem frühe Varianten des Coronavirus in Kliniken und Pflegeheimen zu schweren Corona-Ausbrüchen geführt hatten. In Sachsen etwa sorgte im April 2020 ein Fall in einem Pflegeheim in Zwönitz mit zwölf Toten für Schlagzeilen. Schutz vor derlei Tragödien versprach man sich von Impfstoffen, wie sie seit Dezember 2020 zur Verfügung standen. Als ein Jahr später die Politik die verpflichtende Impfung für medizinisches Personal beschloss, ging es um einen besseren Schutz für »vulnerable Gruppen« wie Alte und Kranke. Karl Lauterbach, der SPD-Bundesgesundheitsminister, sagte im Bundestag, es sei im zweiten Jahr der Pandemie »in keiner Weise akzeptabel, dass in Einrichtungen, wo Menschen leben, die sich unserem Schutz anvertraut haben, noch unnötigerweise Menschen sterben, weil Ungeimpfte dort gearbeitet haben«.

Lars Grundmann hat das Virus nie auf die leichte Schulter genommen. »Wer im klinischen Bereich arbeitet, weiß, dass man sich und die Patienten vor Infektionen schützen muss«, sagt er, »egal, ob es sich um Influenza, Hepatitis oder einen unbekannten, neuen Erreger handelt.« Grundregeln wie die, häufig die Hände zu waschen und zu desinfizieren, sind für ihn selbstverständlich. Lachend zitiert er ein Gebot einer DDR-Jugendorganisation, in der er Mitglied war: »Junge Pioniere halten ihren Körper sauber und gesund.« Zudem habe er im Krankenhaus auf Maßnahmen gedrängt, als andere das zunächst in China grassierende Virus noch belächelten, etwa die strikte Trennung von Stationen und Patientengruppen. Manches sei angesichts des Personalmangels nur mit viel Mühe umsetzbar gewesen, manches auch gegen den Willen der Klinikleitung erfolgt. Auch das ständige Tragen der Maske und tägliche Tests nimmt er hin: »Wir wussten, dass wir das Virus ernst nehmen müssen.«

Eine Zeit lang wurde das Engagement der Beschäftigten von der Gesellschaft sehr gewürdigt. Auf Balkonen wurde symbolischer Applaus gespendet, es gab Corona-Prämien, wenngleich längst nicht für alle Mitarbeiter im Gesundheitswesen.

Grundmann erhielt nur einen kleinen Bonus in unterer dreistelliger Höhe. Dafür wuchs der Druck, sich impfen zu lassen. »Wir wurden«, so empfand er es, »von gefeierten Helden zu Gefährdern.« Der Druck traf dabei Menschen, die ihre Arbeit nicht mit nach Hause nehmen können und täglich das Risiko einer Infektion eingehen. Grundmann steckte sich Ende 2021 an. Wäre der entsprechende Status nicht zwischenzeitlich willkürlich von sechs auf drei Monate verkürzt worden, hätte er im März bei Inkrafttreten der Impfpflicht noch als genesen gegolten, und der Pflicht des Gesetzes wäre damit Genüge getan.

Die erfüllt er nun nicht, weil er ungeimpft ist. Dabei ist Grundmann kein Impfmuffel, -gegner oder gar jemand, der fürchtet, mit der Spritze einen Chip eingepflanzt zu bekommen. »Mit allem, was der normale Impfplan vorsieht, bin ich geimpft«, sagt er. Allerdings wägt er auch in jedem Fall sorgfältig ab. Ein Grund seien Komplikationen bei seiner Geburt, die nachwirken. Zudem wisse er auch um teils erhebliche Nebenwirkungen von Impfungen – ebenso wie freilich um Schäden durch fehlende Impfungen, fügt er an. Er entscheide von Fall zu Fall.

In Impfstoffe gegen Sars-Cov2 habe er anfangs durchaus Hoffnung gesetzt: »Es wäre toll gewesen, wenn sie die Verbreitung von Corona hätten aufhalten können.« Das aber erwies sich schnell als trügerisch. Die erhoffte »sterile Immunität« gibt es nicht; auch Geimpfte können das Virus weitergeben. Die Vakzine von Biontech & Co. verringern zwar das Risiko schwerer Verläufe, sind aber nicht die ersehnten Heilsbringer. Grundmann entschied sich gegen die Impfung.

Die Konsequenzen, die diese Entscheidung hatte, empfindet er als gravierend. Ärgerlich sei, dass er private Gesundheitsdaten gegenüber Arbeitgebern und Behörden offenlegen musste. Schlimmer war aber das drohende Arbeitsverbot: »Bei jedem Gang zum Briefkasten fürchtet man das Schlimmste.« Bei seinen Kollegen im Krankenhaus habe die Impfpflicht für erhebliche Debatten und viel Frust gesorgt. Als besonders ungerecht hätten sie es empfunden, dass eine Impfpflicht für ihre Berufsgruppe verhängt wird, sich die Politik aber zu einer für die allgemeine Bevölkerung nicht durchringen konnte; diese scheiterte im April 2022.

Manche Begleitumstände der »sektoralen Impfpflicht« wirken geradezu grotesk. So müssen zwar Ärzte und Pfleger geimpft sein, die Patienten aber nicht, was die Deutsche Krankenhausgesellschaft im Frühling »nicht vermittelbar« nannte. Grundmann sieht das ebenso. Er hoffte wie viele Kollegen zunächst darauf, dass die Impfpflicht vor Gericht scheitert, und nahm sich einen Anwalt. Allerdings bestätigte das Bundesverfassungsgericht im Mai die Regelung als »verhältnismäßig«. Zwar handele es sich um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen, doch der Schutz von Alten und Kranken habe demgegenüber einen »überragenden Stellenwert«, hieß es im Urteil. Die Impfpflicht hatte Bestand.

Seine Kollegen seien damit unterschiedlich umgegangen, sagt Grundmann. Manche gaben klein bei und ließen sich impfen. Jedoch ist die Impfquote seit Inkrafttreten der Impfpflicht bundesweit nur marginal gestiegen. Von den Beschäftigten in Einrichtungen, die sich an einer monatlichen Abfrage des Robert-Koch-Instituts (RKI) beteiligen, waren im April 5 Prozent nicht und 93 Prozent zweimal oder öfter geimpft; im September waren es 4 bzw. 94 Prozent. Aus Sachsen wurden im April 18 Prozent Ungeimpfte gemeldet, auch dort sank die Impfquote seither nur um einen Prozentpunkt.

Das Gesetz hat nicht zu wesentlich mehr Impfungen geführt, dafür wuchs aber der Frust bei den Beschäftigten. Manche demonstrierten. Grundmann ging auf Abstand, als er feststellte, dass der Unmut zunehmend von Rechtsextremen und Querdenkern instrumentalisiert wurde. Er kennt aber Kollegen, die zunächst gegen die Impfung auf die Straße gingen und mittlerweile regelmäßig bei »Spaziergängen« der rechtsextremen »Freien Sachsen« mitlaufen.

Jenseits solcher Radikalisierung sorgte die Impfpflicht vielfach für Politikfrust. Sie »beschädigt das Vertrauen in die notwendigen Verordnungen von Regierungsseite während der Pandemie«, war schon im März in einem Kommentar der Zeitschrift »Neue Caritas« zu lesen, in dem es auch hieß, viele Beschäftigte hätten die Impfpflicht »wie eine Ohrfeige erlebt«.

Dass sie nicht zu einem befürchteten Aderlass im Gesundheitswesen führte, liegt auch an der Art der Umsetzung. In Bundesländern wie Sachsen werden zwar die vom Gesetz vorgesehenen Regularien umgesetzt: Beschäftigte müssen sich erklären; Ämter prüften unter hohem personellen Aufwand die Angaben und leiteten Verfahren ein. Bis Ende August seien 42 000 der im Freistaat rund 300 000 Betroffenen angeschrieben worden, heißt es aus dem Gesundheitsministerium.

Zugleich öffnete Ministerin Petra Köpping (SPD) aber schon früh eine Hintertür, so groß wie ein Scheunentor: Sanktionen für Ungeimpfte unterbleiben, wenn sonst die Betreuung von Patienten zu leiden droht. »Die Sicherstellung der Versorgung hat für uns oberste Priorität«, sagte sie im Februar. Wo diese in Gefahr sei, werde kein Betretungsverbot ausgesprochen.

So ist es auch gekommen. Zwar betont das Ministerium auf Anfrage des »nd«, die Entscheidung liege bei den Kommunen. »Unseres Wissens sind aber noch keine Betretungsverbote ausgesprochen worden.« Auch Grundmann bleibt von solchen gravierenden Konsequenzen offenbar verschont. Ende Oktober schrieb das Gesundheitsamt, man sehe vom Betretungsverbot »bis auf Weiteres« ab.

Ob die Bedrohung seiner beruflichen Existenz damit vom Tisch ist, weiß Grundmann noch nicht. Laut der im Dezember 2021 im Bundestag beschlossenen Regelung endet die Impfpflicht im Gesundheitswesen am 31. Dezember dieses Jahres. In der Politik und bei Verbänden dominiert die Überzeugung, dass es dafür auch höchste Zeit ist. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hält die Maßnahme für »überholt«; sie werde zur Belastung für eine Branche, die jeden Mitarbeiter dringend brauche.

Köpping schickte kürzlich zusammen mit ihren Ressortkollegen Heike Werner (Linke) aus Thüringen und Klaus Holetschek (CSU) aus Bayern einen Brief nach Berlin, in dem sie dringend ein Ende der Impfpflicht fordern – diese habe »nicht dabei geholfen, dass sich alle im Gesundheits- und Pflegebereich impfen lassen«. Sachsen setze auf Aufklärung, aber nicht auf eine Pflicht zur Impfung, sagt Köpping. Man werde sich »auf allen Ebenen« für deren Ende einsetzen.

In Berlin jedoch kann sich der Minister zu einem Schlussstrich nicht durchringen. Zwar hatte der Kommentator der »Neuen Caritas« schon im März festgestellt: »Wenn man merkt, dass man falsch abgebogen ist, ist es kein Ausdruck von Vernunft, einfach weiterzufahren.« Das Bundesministerium für Gesundheit teilt auf Anfrage aber im September mit, der weitere Umgang mit der Impfpflicht werde »politisch erörtert«; dem Prozess könne man »nicht vorgreifen«.

Anfang November hieß es, es gebe »keinen neuen Sachstand«, die Beratungen dauerten an. Lauterbach erklärte im Bundestag kürzlich, man wolle es vom Verlauf der Herbst- und Winterwelle abhängig machen, wie mit der Impfpflicht umgegangen werde. Für Lars Grundmann und die anderen ungeimpften Mitarbeiter im Gesundheitswesen heißt das: Das Damoklesschwert schwebt weiter über ihnen.

*Name geändert

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