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  • Cottbusser Filmfestival

Die Barbarei bricht herein

Das Cottbusser Filmfestival, das hauptsächlich Filme aus den ehemals sozialistischen Ländern in Mittel- und Osteuropa zeigt, ging zu Ende

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 5 Min.
Boris Guts’ »Minsk« ist ein sehr wütender und beeindruckender Film über das brutale Vorgehen der weißrussischen Repressionsorgane bei den Protesten im August 2020.
Boris Guts’ »Minsk« ist ein sehr wütender und beeindruckender Film über das brutale Vorgehen der weißrussischen Repressionsorgane bei den Protesten im August 2020.

»Ich möchte nicht eine gekämmte, geglättete Filmfantasie zeigen, sondern eine Realität, in der ein totalitärer Polizeistaat vor Ihren Augen das Leben eines Menschen in nur anderthalb Stunden zerstören kann, während Sie noch den Film sehen«, sagt der russische Regisseur Boris Guts über seinen neuen Film »Minsk«, und aus seinen Worten spricht nicht nur die Wut über das brutale Vorgehen der weißrussischen Repressionsorgane bei den Protesten im August 2020, sondern auch die Wut darauf, dass das belarussische Regime und seine Schergen bis auf Weiteres mit ihrer Brutalität davonkamen und -kommen. Und so hat Guts einen sehr wütenden und beeindruckenden Film gedreht: Ohne einen einzigen Schnitt zeigt er, wie die Barbarei in das bürgerliche Leben zweier junger Minsker hereinbricht. Wo Julia und Pasha eben noch nackt im Bett liegen und nach dem Sex Siri um Musik bitten, finden sie sich kurz darauf in einer Polizeistation wieder, mit Bullenknüppel im Mund und von Tritten misshandelt. Selten hat ein Film die enorme Aufgepeitschtheit von Riot- und Gewaltsituationen so eindrucksvoll eingefangen wie Guts und seine Schauspieler*innen – »Minsk« ist ein spektakulärer, großartiger Film.

Preisträger*innen des 32. Filmfestivals Cottbus

Wettbewerb Spielfilm
Hauptpreis für den besten Film: »Safe Place« (Juraj Lerotić, HR/SI 2022)

Spezialpreis für die beste Regie: Damian Kocur, »Bread and Salt« (PL 2022)

Preis für eine herausragende darstellerische Einzelleistung: Iulian Postelnicu, »Men of Deeds« (Paul Negoescu, RO 2022)

FIPRESCI-Preis
»Minsk« (Boris Guts, EE 2022)

Preis der Ökumenischen Jury
»Minsk« (Boris Guts, EE 2022)

In »Minsk« geht es aber nicht nur um die Brutalität der Lukaschenko-Schergen, nebenbei werden auch die Schwierigkeiten verhandelt, die in von Misstrauen belasteten Beziehungen auftreten, denn Julia ist eifersüchtig auf Pashas Ex-Frau, sich auch ihrer Liebe zu ihm nicht ganz sicher, was später in der Ausnahmesitaution, in die sie geraten, noch eine Rolle spielt. Der Film gewann u.a. den Kritiker*innenpreis beim Cottbusser Filmfestival, das am Sonntag zu Ende ging und das hauptsächlich Filme aus den »ehemals sozialistischen Ländern« in Mittel- und Osteuropa zeigt, wie es in der Selbstdarstellung heißt. In diesem Jahr waren solche Probleme der Identitäts- und Rollenfindung unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen auch in vielen anderen Filmen des Festivalprogramms Thema. Am plakativsten vielleicht im Eröffnungsfilm »Luxembourg, Luxembourg« vom ukrainischen Regisseur Antonio Lukich, einer Tragikkomödie, in der die Geschichte von Zwillingen erzählt wird, die ihren kleinkriminellen Vater nur aus der Kindheit kennen, da er die Familie bald verlassen hat. Beide haben zwar Jobs, der eine als Busfahrer, der andere als Polizist, beide entsprechen aber nicht den Erwartungen ihres sozialen Umfeldes und vor allem nicht den Männlichkeitsidealbildern, die sie selbst haben. Sie erfahren vom Unfall des Vaters, der nun im Sterben in einem Luxemburger Krankenhaus liegt und brechen auf, um sich von ihm zu verabschieden. Der Plot und seine Nebenstränge liefern dabei hauptsächlich die Stationen und Schauplätze, an denen sich die beiden mit ihren selbst auferlegten Konventionen und den falschen Selbstbildern, die sie sich geschaffen haben, auseinandersetzen müssen. Auch »Luxembourg, Luxembourg« ist sehenswert, verliert sich aber zu oft in zum Teil unnötigen Absurditäten und seichten Scherzen.

Um Eltern-Beziehungen zu ihren heranwachsenden Kindern geht es auch in zwei weiteren, sehr gelungenen Filmen: Vor allem »The 9th Step« der jungen litauischen Regisseurin Irma Pužauskaitė ist eine erstaunlich präzise Regieleistung, mit der sie die Beziehungen des Enddreißigers Linas zu seiner 17-jährigen Tochter Eve und deren ebenfalls noch minderjährigen Freundin Maya ausleuchtet. Linas kämpft dabei an mehreren Fronten, zum einen gegen einen Alkohol-Rückfall, denn er ist trockener Alkoholiker, aber auch gegen die ihn durchaus reizenden Avancen von Maya, vor allem aber um die Beziehung zu seiner Tochter. Pužauskaitė zeigt das langsam intim werdende Verhältnis des 36-jährigen Linas zu der Teenagerin Maya nicht als moralisches Vergehen, sondern als Teil der Entwicklung des Mannes, der hier das reine Begehren überwinden muss, um zu lernen, Verantwortung für sich und andere übernehmen zu können. Der ganze Film kann dahingehend verstanden werden: Die Ablösung bisher selbstverständlicher männlicher Rollen wird in Nahaufnahme inszeniert, mit viel Empathie auch für die Beschwerlichkeiten von Linas in dieser Situation.

Auch in »Murina«, dem Film der kroatischen Regisseurin Antoneta Alamat Kusijanović geht es um eine Vater-Tochter-Beziehung und hier auch um toxische Männlichkeit. Die Teenagerin Julija lebt mit Vater Ante und Mutter Nela auf einer kroatischen Insel. Ante besitzt etwas Land und wird als aufbrausendes, auch regelmäßig übergriffiges Familienoberhaupt gezeigt. Julija bekommt von ihm nicht nur Befehle, sondern auch erklärt, sie sei nichts Besonderes, außerdem habe sie »Schultern wie ein Junge« – nicht nur die Männlichkeit ist hier toxisch, sondern auch die Vater-Tochter-Beziehung an sich. »Der Chauvinismus ist so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, dass wir ihn oft für unsere kulturelle Mentalität halten. Der Vater setzt ihn durch, weil es ihm passt, die Mutter unterstützt ihn, weil sie dazu erzogen wurde. Für Julija ist der Chauvinismus eine antagonistische Kraft, die als Reaktion auf jede ihrer Handlungen so präsent ist, dass sie seine Grenzen mit ihrem eigenen Potenzial verwechselt«, erklärt Kusijanović auf der Festival-Seite zu ihrem Film. Mit dem Auftauchen von Javier, einem alten Jugendfreund des Vaters, dem er nun sein Land verkaufen will, brechen die Konflikte innerhalb der Familie auf, denn Javier, der nur ein paar Tage bleiben will, repräsentiert für Julija und auch ihre Mutter die Möglichkeit, der familiären Enge zu entfliehen. Und diese Möglichkeit will Julija unbedingt nutzen, auch weil sie nicht, wie sie es der Mutter vorwirft, nur aus familiärem Pflichtbewusstsein in einer langjährigen unglücklichen Beziehung verharren will. Kusijanović gelingt es vortrefflich, den Auflösungsprozess des Patriarchats zu zeigen, denn mit der Ankunft des charmanten, modernen Javier wird der Patriarch auch für Mutter und Tochter unübersehbar zum Hans Wurst und die Flucht vor ihm und damit aus der patriarchalen bürgerlichen Kleinfamilie erscheint als Perspektive zur Befreiung und Emanzipation.

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