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»Das Leben wird gewinnen«
Die Theateraktivistin Yana Salakhova schafft sichere Räume für den Austausch von Erfahrungen, Erlebnissen und Emotionen
Frau Salakhova, was kann Theaterarbeit in diesen Zeiten in der Ukraine bewirken?
Yana Salakhova ist Teil der ukrainischen Gruppe Theatre for Dialogue, die sich im Februar 2014 in Solidarität mit den Euromaidan-Protesten gründete. Derzeit arbeitet die Aktivistin des Theaters der Unterdrückten mit ukrainischen Geflüchteten in Polen, will aber demnächst nach Kiew zurückkehren.
Puh, wo soll ich da anfangen? Am einfachsten vielleicht so: Wenn man mitten in einer Verunsicherung, mitten in einer traumatischen Situation steckt, befindet man sich emotional entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft – meist aber in der Vergangenheit. Die Gedanken und Gefühle kreisen im Vergangenen, und nur sehr selten fühlt man sich im Hier und Heute. Dabei gerät in den Hintergrund, was der Körper in der Gegenwart fühlt. Deshalb starten wir bei unseren Proben meist mit Körperarbeit, wir versuchen herauszufinden, wie sich der Körper fühlt – und was er fühlt, welche Gedanken und Wahrnehmungen damit verbunden sind. Denn wenn man sich bewusst wird, was der Körper empfindet, kann man eine Verbindung zur Gegenwart herstellen und versuchen, eine Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. Daran haben wir in den letzten Monaten gearbeitet.
Wo und mit wem haben Sie zuletzt gearbeitet? Waren das Landsleute in der Ukraine, in den Kriegsgebieten, Geflüchtete im Exil, vielleicht sogar Soldaten mit Fronterfahrung?
Nein, in den unmittelbaren Kriegsgebieten sind wir nicht tätig, das ist unmöglich. Es wäre auch sehr herausfordernd. Schließlich müssten die Menschen erst aus dem unmittelbaren Überlebensmodus herauskommen und in den langsameren Modus des Theaters hinüberwechseln. Wir konzentrieren uns daher auf die sichereren Gebiete und versuchen dort, wo es geht, solche Inseln zu schaffen. Eine Kollegin von mir hat zuletzt an verschiedenen Orten in der Ukraine gearbeitet. Aktuell gibt es auch einen großen Bedarf danach. Die Menschen wollen ihre Geschichten, ihre Erlebnisse austauschen, und wir kreieren dafür einen sicheren Raum.
Wie muss man sich das vorstellen, mitten im Krieg einen solchen sicheren Raum herzustellen?
Anfangs wussten wir auch nicht, wie uns das gelingen könnte. Wir waren einfach überwältigt und paralysiert von dem, was alles an Nachrichten auf uns einströmte. Ukrainer*innen sind sehr miteinander verbunden. Das Land ist zwar groß, aber wir verfolgten, was in den anderen Regionen geschah. Dabei sahen wir, dass die Situation vor Ort hinsichtlich der Sicherheit sehr unterschiedlich sein konnte. Manche Gebiete sind okkupiert, andere sind sicherer, wiederum andere sind voll von Menschen, die aus den Kriegszonen geflohen sind. Und viele Landsleute befinden sich auch im Ausland. Wir haben uns dann überlegt, eine Verbindung herzustellen zwischen denen, die im Ausland leben, und denen, die unter unterschiedlichsten Bedingungen im Land geblieben sind.
Wie haben Sie das bewerkstelligt?
Die allererste Form waren Online-Theater und Online-Workshops. Dazu nutzten wir das sogenannte Zeitungstheater. Eine Methode des Theaters der Unterdrückten, die Augusto Boal in Brasilien entwickelt hatte, um zur Zeit des damaligen Militärregimes Zensur und Propaganda zu umgehen.
Wie genau sind Sie vorgegangen? Und wie haben Sie diese ursprünglich analoge Theatertechnik auf Online umgestellt?
Wir haben jeden Samstag eine Zoom-Session organisiert. Daran nahmen Menschen teil, die bereits in Westeuropa waren, aber auch solche, die in der Ukraine geblieben sind oder innerhalb des Landes ihren Aufenthaltsort wechseln mussten. Mit den Online-Varianten hatten wir bereits während der Pandemie Erfahrungen gesammelt. Ein Online-Workshop ist natürlich eine andere Form von Theater. Aber man sieht über das Zoom-Fenster ja auch den Raum, in dem sich die anderen befinden, und kann damit interagieren. Und es gibt sogar ein paar Vorteile. So kann man etwa ziemlich schnell Bilder und Texte, mit denen man arbeiten will, im Internet finden und austauschen.
Beim Zeitungstheater gibt es zwölf verschiedene Techniken: Man kann beim Lesen von Texten die Betonung ändern, sie in verschiedenen Arten und Geschwindigkeiten vorlesen oder Nachrichtenszenen theatral darstellen. All das dient dazu, diese Nachrichten zu befragen und sich darüber auszutauschen. Es hat nicht lange gedauert, bis wir merkten, wie wichtig es ist, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen sich austauschen können. Und in dem sie sich in all dieser Unsicherheit und Bedrohung überhaupt erst wieder als menschliche Wesen wahrnehmen können, auch in all ihrer Verletzlichkeit. Es war sehr wertvoll, den Geschichten der anderen zuzuhören und sich als eine Gemeinschaft zu fühlen. Besonders für die Menschen im Exil ist das sehr wichtig, da sie oft unter Einsamkeit und Isolation leiden.
Führt diese Konfrontation mit den Geschichten der anderen auch dazu, dass man eine andere Perspektive auf die eigenen Erlebnisse bekommt und sich gewissermaßen in der Reflektion über die anderen selbst besser versteht?
Ja, das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Zum einen kann man in solchen Situationen mal das Tempo herausnehmen, die Anspannung lösen und sich selbst befragen, was welche Emotionen auslöst. Um sich selbst zu verstehen, braucht man ja oft einen Spiegel. Die Erzählungen der anderen ermöglichen, dass man lernt, eigene Entscheidungen und Erlebnisse ganz anders zu reflektieren und zu bewerten.
Neben den Formaten im Internet arbeiten Sie aber auch direkt vor Ort mit Menschen.
Die Erfahrungen mit dem Online-Theater bestärkten mich darin, es auch wieder in der analogen Welt zu versuchen. So arbeitete ich etwa mit ukrainischen Frauen in Warschau und wählte dafür die Methode des Bildertheaters. Oft ist es schwer, das Erlebte und Erlittene in Worten auszudrücken, da gibt es mehr Freiheit, mit dem eigenen Körper Bilder zu entwerfen. Wichtig war mir dabei, erneut auf den Körper zu hören. In Reflektionsrunden tauschten wir uns darüber aus, was wir bei welchen Szenen verspürt haben. Und dabei fanden sich oft Gemeinsamkeiten. Bei vielen Menschen, die sich im Exil befinden, stellt sich oft ein Gefühl von Schuld ein. Weil sie es geschafft haben, in Sicherheit zu sein, während andere im Land sich noch in viel größerer Gefahr befinden. Aber über das Spiel und über den Austausch konnte man die Entscheidungen der Einzelnen detailliert nachvollziehen. Das half dann auch, mit der eigenen Situation besser umzugehen.
Wie sehen Ihre nächsten Pläne aus?
Aktuell nehme ich an einer Weiterbildung zum Thema Traumatherapie und Traumaarbeit teil. Da geht es auch darum, meine eigenen Mechanismen kennenzulernen: Wie gehe ich mit Stress und traumatischen Erfahrungen um? Wie kann ich das bei mir selbst erkennen? Mein Plan ist, bald nach Kiew zurückzukehren und dort meine Arbeit fortzusetzen. Einige meiner Kolleginnen arbeiten in der Ukraine. Derzeit erhalten wir aus vielen Städten Anfragen von zivilgesellschaftlichen Institutionen, dort Workshops zu organisieren. Erst kürzlich bekamen wir eine Einladung nach Winnyzja. Der Titel des Workshops und der Performance lautete »Träumer«. Es ging um die Träume, die man in einer kleinen Stadt haben kann und welche Wünsche und Sehnsüchte damit verbunden sind.
Wer hat daran teilgenommen? Und welche Träume einer Stadt wurden artikuliert?
Es war eine große Bandbreite von Personen. Einer kam vom Militär, ein anderer von einem Friseurgeschäft, auch Psycholog*innen und Aktivist*innen waren dabei. Und die meisten Träume drehten sich natürlich um ein Leben in Frieden. Eine ganz starke Botschaft aus der Ukraine ist gegenwärtig, dass das Leben gewinnen wird. In all der Zerstörung, die wir jeden Tag erleben, spüre ich, dass die Ukrainer*innen das Leben am intensivsten spüren, lieben und wertschätzen. Und die Mittel des Theaters können das noch verstärken.
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