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Auf der Suche nach dem Genie

Neues aus dem Leben, Werk und Umfeld des Marcel Proust

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.
Villen besuchen: Marcel Proust 1905 im Garten des Komponisten Reynald Hahn
Villen besuchen: Marcel Proust 1905 im Garten des Komponisten Reynald Hahn

Marcel Proust war ein dünnhäutiges, kränkelndes Kind. Er war neun, als er seinen ersten schweren Asthma-Anfall hatte. Der Vater, ein angesehener Arzt, fürchtete um sein Leben. Von da an war nichts mehr, wie es gewesen war. Der Junge wurde Außenseiter, ausgeschlossen von den Spielen der Kinder und den Unternehmungen der Mitschüler, gefangen in der Rolle des Zuschauers und Beobachters. Mit Inbrunst speicherte er fortan, was er gesehen, gehört und wahrgenommen hatte: Szenen, Figuren, Gesichter, Blicke, Gesten, Bewegungen, all das, was sich vor seinen Augen abspielte.

Später, längst erwachsen und beschäftigt mit der »Recherche«, seinem Riesenroman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, und noch nicht total ans Bett gefesselt, hat er manchmal, wenn er nicht weiterkam, abends sein lärmgeschütztes Zimmer verlassen, um in einer Gesellschaft Interieur und Menschen zu studieren, die dann, verwandelt, Eingang in den Roman fanden. Das Werk, an dem er ständig weiterarbeitete, feilte, änderte, verwarf, war der Rückzugsort. Es verdankt sich der Krankheit, die ihm mit den Angstattacken, den Sehstörungen, Lähmungserscheinungen, dem Herzrasen und der Muskelschwäche nicht erlaubte, wie andere zu leben.

Marcel Proust starb am 18. November 1922 mit 51 Jahren. Da war er in Frankreich schon einer der großen, bewunderten Autoren und nun auch auf dem Weg zum Ruhm. Im deutschen Sprachraum hatte es sein Werk dagegen unendlich schwer. Zum Glück gab es damals Ernst Robert Curtius, einen 1886 geborenen Elsässer, der noch mit Proust korrespondiert hatte und 1925 einen 140-Seiten-Essay über ihn veröffentlichte, ein großartiges, in Zeiten wüsten Franzosenhasses auch mutiges Plädoyer. 30 Jahre danach, als Peter Suhrkamp die erste deutsche Ausgabe der »Recherche« initiierte, hat er das Buch, diese sanft dahinfließende Erinnerung an die Tage von einst, die Häuser, Salons, die Mädchen am Strand oder den Duft der Weißdornblüten, zur Einstimmung ins Werk noch einmal gedruckt.

Seitdem hat Proust seinen festen, unbestrittenen Platz im Verlagsprogramm. Dort ist 2016 auch in einer fantastisch ausgestatteten Edition die zweibändige Sammlung der Briefe erschienen. Und Jürgen Ritte, ihr Herausgeber, gibt uns zum 100. Todestag des Franzosen ein weiteres, anschauliches Beispiel seiner bewundernswerten Vertrautheit mit Leben, Werk und Umfeld des Autors in die Hand. Diesmal ist es ein schmales, mit Fotos und Illustrationen reich geschmücktes Bändchen der Insel-Bücherei, das den frühen, kaum bekannten und meist spärlich dokumentierten Reisen des jungen Proust nach Evian an den Genfer See nachspürt.

1899, als Proust das erste Mal kam und auch einige Wochen blieb, bezeugen immerhin 18 Briefe seinen Aufenthalt, aber schon über seine Wiederkehr 1900 und 1901 weiß man nichts Sicheres. Evian wurde ein Sehnsuchtsort. Dort, schrieb er, »fühlte ich mich am ehesten zu Hause«. In seinem Roman, für den er alles mühsam zusammensuchen musste, wie er seiner Haushälterin Céleste Albaret anvertraut hat, taucht er allerdings nicht auf. 

Und doch findet sich irgendwo manches wieder, was Proust am Genfer See zwischen 1899 und 1905 unternahm und sah: die Besuche in den herrschaftlichen Villen und Palästen, die Adligen, die dort residierten und mit ironischen Blicken gemustert wurden, die Bekanntschaften, die Diener und Hotelmädchen, die Ausflüge und Bootsfahrten. In Briefen und frühen Schriften, natürlich auch dort, wo Proust sich bei seinen sechs oder sieben Aufenthalten aufhielt, sucht Ritte behutsam und mit erstaunlicher Kombinationsgabe nach den Spuren all dieser Tage, die, gespeichert im Gedächtnis, später für die »Recherche« zur Verfügung standen.

Bis zu seinem 35. Jahr, sagt Luzius Keller, Herausgeber der Frankfurter Werkausgabe, ist Marcel Proust häufig gereist, »meist nach unendlichen Überlegungen über das Ziel der Reise«. Die Auskunft des Zürcher Autors steht in einem voluminösen, grafisch auffällig gestalteten Band, den er jetzt in der Friedenauer Presse seiner aus dem Französischen übersetzten und ergänzten Proust-Enzyklopädie von 2009 (Hoffmann und Campe) zur Seite gestellt hat. Er nennt ihn »Das Marcel Proust Alphabet«. 

Dieses bestechende Handbuch mit seinen gut 1000, alphabetisch angeordneten Artikeln fasst auf über 1300 Seiten zusammen, was für die Beschäftigung mit dem Autor, seinem Werk und seiner Welt von Nutzen ist. Hier ist zu finden, was eine emsige Forschung in Jahrzehnten zutage gefördert hat. Es gibt, verfasst mit leichter Hand, Artikel über Vorbilder, die Figuren der »Recherche«, über Prousts Erzählungen, Skizzen, Essays, Chroniken, seinen unvollendeten Roman »Jean Santeuil«, über die Rezeption in anderen Ländern, über Angehörige, Zeitgenossen, Freundschaften, über Orte, Hotels, Kritiker, Krankheiten, Lektüre, Eifersucht, Homosexualität. Wo immer man dieses mit Informationen vollgestopfte Buch aufschlägt, überrascht es mit Auskünften, die man, so konzentriert und in dieser Fülle, anderswo kaum finden wird.

Natürlich hat auch André Gide in diesem Alphabet seinen Platz. Er war 1913, als Proust »Unterwegs zu Swann«, den Auftaktroman, fertig hatte, Lektor im Verlag Gallimard und schickte das eingereichte Manuskript seinem Verfasser ungelesen zurück. Am 11. Januar 1914 schrieb er zutiefst beschämt: »Mein lieber Proust, seit einigen Tagen verlasse ich Ihr Buch nicht mehr. Ach, warum muss es so schmerzlich sein für mich, es so sehr zu lieben?« Inzwischen war der Roman auf Kosten seines Verfassers bei Grasset gedruckt worden, und Gide sprach nun vom »schwersten Fehler« und von der »brennendsten Schuld meines Lebens«.

Proust reagierte so großherzig und freundlich, wie Gide es wahrscheinlich nicht erwartet hatte. Ohne die Ablehnung, meinte er tröstend, hätte er den Brief seines Kollegen nicht bekommen. Und fügte hinzu, dass er gerade den ganzen Abend mit dessen Roman »Die Verliese des Vatikans« verbracht habe.

Jürgen Ritte: Marcel Proust am Genfer See. Insel-Bücherei, 139 S., mit Abb., geb., 14 €.
Luzius Keller: Das Marcel Proust Alphabet. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung. Friedenauer Presse, 1366 S., geb., 68 €.

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