Queerfeindlichkeit kostet Menschenleben

Sibel Schick über Queerfeindlichkeit in den Vereinigten Staaten

  • Sibel Schick
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwei Anschläge innerhalb von drei Tagen: Dienstagnacht soll eine Person im US-Bundesstaat Virginia in einem Walmart um sich geschossen und Menschen getötet haben; bis Redaktionsschluss sind die Einzelheiten dieses Vorfalls noch nicht geklärt. Erst in der Nacht auf Sonntag griff ein bewaffneter Mann in Colorado Springs den »Club Q« an, der ein sicherer Hafen für queere Menschen vor Ort sein sollte. Der Täter erschoss fünf Menschen: Daniel Aston, Kelly Loving, Ashley Paugh, Derrick Rump und Raymond Green Vance.

In den USA verging dieses Jahr kaum ein Monat ohne einen bewaffneten Angriff mit mehreren Toten; bisher zählt die Zivilgesellschaft mindestens 19 Anschläge. Auf dem Höhepunkt der Gewalt geschieht etwas, was gleichzeitig erstaunlich und typisch ist: Die Republikaner*innen lenken vom Thema der Waffengesetze ab und machen stattdessen queere Menschen zum Problem, was diese als wandelnde Zielscheibe markiert. Im Juni nahmen konservative Politiker wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis eine Veranstaltung, auf der Drag Queens für Kinder vorlasen, als Anlass, um Drag, eine Performancekunst, als sexuellen Missbrauch an Kindern zu brandmarken und so queere Kultur zu dämonisieren.

Sibel Schick
Sibel Schick ist Autorin und Journalistin. Sie wurde 1985 in der Türkei geboren und zog 2009 nach Deutschland. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »In schlechter Gesellschaft«. Darin schreibt Schick gegen das Patriarchat und den Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft an. Alle Texte unter dasnd.de/gesellschaft.

Am vergangenen Sonntag war der 23. Transgender Day of Remembrance. Der Tag wurde 1999 von der Autorin Gwendolyn Ann Smith nach dem Mord an der Schwarzen trans Frau Rita Hester ins Leben gerufen. Jährlich am 20. November wird ermordeter trans Menschen und jener, die zum Suizid gebracht wurden, gedacht. Der Angriff auf den »Club Q« ereignete sich in der Nacht auf diesen Gedenktag. Drag Shows waren Teil des Abendprogramms.

Der Anschlag ist nur eine logische Schlussfolgerung der queerfeindlichen US-Politik der vergangenen Jahre. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Das »Don’t say gay«-Gesetz aus Florida will verbieten, dass im Schulunterricht über Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung gesprochen wird. Damit will es verhindern, dass sich queere Kinder und Jugendliche outen. Außerdem wurden in unterschiedlichsten US-Staaten Gesetze beschlossen, die trans Kinder aus dem Sport ausschließen und ihnen mit erzwungenen Genitalinspektionen drohen. Es sind Gesetze, die Eltern und Mediziner*innen, die trans Kinder und Jugendliche unterstützen und behandeln, kriminalisieren. Sie drohen jenen Eltern, die ihre Kinder zu Veranstaltungen mit Drag Queens bringen, mit dem Entzug des Sorgerechts. Diese Veranstaltungen müssen nicht nachts in einem Club stattfinden – gemeint sind beispielsweise auch Kinderbuchlesungen, die tagsüber in einer Bücherei stattfinden. Es geht also darum, die bloße Existenz von Drag Queens als Kindeswohlgefährdung zu brandmarken. Das hat Folgen.

Vergangenen Monat in Oregon protestierten Rechtsextreme vor einer Drag Show, viele von ihnen trugen Waffen. Die »New York Times« berichtet, dass Drag Shows und Clubs, in denen sie stattfinden, in den vergangenen Jahren häufiger zur Zielscheibe von Drohungen und tätlichen Angriffen wurden, unter anderem durch Aufrufe von rechtsextremen Gruppen wie den Proud Boys. Diese spielten eine große Rolle bei dem Sturm auf das Kapitol 2021.

Die fünf ermordeten Menschen in Colorado Springs sind also keine Kollateralschaden queerfeindlicher Politik, sondern deren Ziel: strukturelle Queerfeindlichkeit dient zur Unterdrückung aller, die von der cisgeschlechtlichen, binären und heterosexuellen Norm abweichen. Es geht darum, sie in Lebensgefahr zu bringen, sobald sie ihre Identität offen ausleben. Und schließlich geht es den Rechten darum, die USA von queeren Menschen zu »befreien«, sprich: sie auszulöschen.

Kindeswohl war nie das Ziel von Queerfeindlichkeit, ganz im Gegenteil. Um es mit den Worten der Drag Queen Alyssa Edwards auszudrücken: »Sie, mein Herr, twitterten mehr über Drag als über den Verlust in Uvalde. Geht es hier wirklich um Kinder oder Politik?« Diesen Tweet richtete Edwards dieses Jahr an den republikanischen Kongressabgeordneten Brian Slayton aus Texas, der sein Vorhaben, Drag Shows in Präsenz von Kindern zu verbieten, ankündigte. In Uvalde erschoss ein bewaffneter 18-Jähriger im Mai 19 Kinder und zwei Lehrkräfte in einer Schule. Der traumatische Angriff löste erneut eine Debatte über die US-Waffengesetze aus. Und Republikaner mussten diese ja irgendwie im Keim ersticken. Also fingen sie an, Drag Queens anzugreifen.

»Ach, die verrückten Amis«, kann man als Europäer*in natürlich sagen. So einfach ist es aber nicht. Denn die gleichen geistigen Brandstifter*innen wie in den USA kennen wir in Deutschland. Es sind die extrem Rechten, die wir in unsere Parlamente wählen. Es sind diejenigen selbsternannten Feministinnen, die ganze Magazine vollschreiben und Bücher veröffentlichen, um die gesetzliche Gleichstellung von trans Menschen zu verhindern. Und es sind diejenigen, die Konversionstherapien für trans Menschen fordern.

Die USA sind nicht so weit weg, wie wir denken. Queerfeindlichkeit ist auch in Deutschland ein großes Problem. Und wir dürfen nicht wegsehen.

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