Der Vertrauensbonus ist fast aufgebraucht

Aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung schlägt Alarm ob der Gefahren durch Armut

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.

Angesichts der rasant wachsenden Armut verspielen die politisch Verantwortlichen bei immer mehr Menschen das Vertrauen in das System. So könnte man die wichtigsten Aspekte zusammenfassen, die aus den Ergebnissen des neuen Verteilungsberichts des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hervorgehen. »Mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut ist also nicht nur notwendig, um den direkt Betroffenen zu helfen, sondern auch, um die Gesellschaft zusammenzuhalten«, sagte dementsprechend WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch bei der Vorstellung des Berichts am Donnerstag.

Kohlrausch zufolge sei es gut, dass in der momentan so angespannten Situation das Bürgergeld jetzt schnell komme. Sie schränkte aber ein: »Es ist allerdings bedauerlich, dass sich der Vorschlag einer Vertrauenszeit, die das Vertrauen in staatliche Institutionen vermutlich gestärkt hätte, nicht durchsetzen konnte.« Am Dienstag hatte CDU-Chef Friedrich Merz sich und die Union öffentlich dafür gefeiert, dass durch ihre Intervention die mit weniger Sanktionen belegte Vertrauenszeit komplett aus dem Bürgergeldgesetz gestrichen wurde.

Die neue WSI-Studie zeigt nun, wie stark dauerhafte Armut in Deutschland die gesellschaftliche Teilhabe schon in wirtschaftlich stabilen Zeiten einschränkt. Demnach müssen Arme etwa deutlich häufiger auf Güter des alltäglichen Lebens wie eine Grundausstattung mit Kleidung oder Schuhen verzichten; sie können seltener angemessen heizen und leben in kleinerem Wohnraum. Zudem haben sie im Schnitt einen schlechteren Gesundheitszustand, geringere Bildungschancen und sind mit ihrem Leben unzufriedener. All diese Nachteile führen bei vielen Betroffenen zu einer erhöhten Distanz gegenüber dem politischen System: Lediglich 68 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform; nur 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschland funktioniere gut.

Diese Gemengelage sei eine denkbar schlechte Ausgangsposition für die fortgesetzten sozialen Stresstests durch die andauernde Corona-Pandemie, den Ukraine-Krieg und die Rekordinflation, warnte Kohlrausch. Der finanzielle Rückstand von Haushalten unter der Armutsgrenze gegenüber dem Einkommensmedian sei im Vergleich zum Jahr 2010 um ein Drittel gewachsen. Und auch die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland insgesamt habe bereits 2019 einen neuen Höchststand erreicht.

Für den Verteilungsbericht wurden die Daten aus zwei repräsentativen Befragungen ausgewertet, für die insgesamt rund 20 000 Haushalte interviewt wurden. Als arm werden darin – gemäß der üblichen wissenschaftlichen Definition – Menschen gezählt, deren bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt. Obwohl es im untersuchten Zeitraum – den 2010er-Jahren – eine generell gute Wirtschaftsentwicklung gab, stieg die Armutsquote von 2010 bis 2019 von 14,3 auf 16,8 Prozent. Das bedeutet eine relative Zunahme um 17,5 Prozent. Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens zur Verfügung hatten, ging im gleichen Zeitraum sogar um gut 40 Prozent in die Höhe: Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wuchs von 7,9 auf 11,1 Prozent.

Zur Verbesserung der Situation werden in dem Bericht mehrere maßgebliche Forderungen aufgestellt. Neben höheren Löhnen für Geringverdienende durch Stärkung der Tarifbindung und Rückbau des Niedriglohnsektors sowie der Anhebung der Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau müssten auch eine tatsächliche Förderung von sozialem Wohnraum und gut durchdachtes Quartiersmanagement umgesetzt werden. Hinzu müsse eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf kommen, damit sowohl Familien mit nur einem Erwerbseinkommen als auch Alleinerziehende – beides Haushaltstypen, die überdurchschnittlich von Armut betroffen sind – profitieren.

Zu guter Letzt müsse die Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und Qualifizierung ausgebaut werden. In dieser Frage sieht der Bericht im kommenden Bürgergeld-System immerhin gute Ansätze. Allerdings müssten bei der Qualifizierung ganz besonders Migrantinnen und Migranten in den Fokus genommen werden. »So können das Miss Match auf dem Arbeitsmarkt verbessert, Fachkräftemangel gemildert und Menschen ihren Qualifikationen entsprechend vermittelt werden«, so die Autorinnen.

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