Venezuela braucht Entspannung

Der linke Ökonom Manuel Sutherland über die wirtschaftliche Krise in Venezuela

  • Tobias Lambert
  • Lesedauer: 8 Min.

Nach einem 15-monatigen Stillstand der Verhandlungen haben Regierung und Opposition in Venezuela vor wenigen Tagen den Dialog wieder aufgenommen. Als erste Ergebnisse stehen ein humanitäres Teilabkommen und die Erlaubnis für den US-Konzern Chevron, wieder Erdöl zu exportieren. Wird dies zur Überwindung der Wirtschaftskrise in Venezuela beitragen?

Die ersten Ergebnisse sind interessant, aber weit davon entfernt, die Krise zu überwinden. Zumindest gibt es eine Chance, diese extreme Konfliktivität der beiden politischen Pole anzugehen. Die Aufweichung der US-Sanktionen ist aber sehr gering. Venezuela könnte höchstens über Abgaben geringe Einnahmen aushandeln.

Interview

Manuel Sutherland ist Ökonom und Direktor des marxistischen »Forschungszentrums und Arbeiterbildung« (Centro de Investigación y Formación Obrera) in Venezuelas Hauptstadt Caracas.

Dieses Jahr ist bereits eine leichte Erholung der wirtschaftlichen Lage zu spüren. Nachdem die Teuerungsrate zwölf Monate in Folge unter 50 Prozent geblieben war, endete Anfang dieses Jahres offiziell die Hyperinflation in Venezuela. Wie ist das gelungen?

Vor allem über eine drastische Verringerung der Geldmenge und Beschränkungen für private Banken, Kredite zu vergeben. Zugleich hat es die Regierung geschafft, die Produktion und den Export von Erdöl etwas zu erhöhen. Dadurch nimmt sie mehr Devisen ein, die sie seitdem auf dem offiziellen Markt verkauft, um die Nachfrage zu bedienen. In der Folge hat sich der Wechselkurs stabilisiert. Aufgrund der Überbewertung der eigenen Währung kann Venezuela außer Erdöl aber nichts exportieren und muss alles importieren.

Im Vergleich zu den vergangenen Jahren hat sich die Versorgungslage in Venezuela allerdings deutlich verbessert. Woran liegt das?

2019 hat die Regierung die offene Verwendung des US-Dollars als Zahlungsmittel zugelassen. Gesetze über Preiskontrollen und andere Mechanismen bestehen zwar noch, werden aber nicht mehr angewendet. Importe wurden deutlich vereinfacht, Zölle und Steuern gestrichen. Hinzu kommen Privatisierungen, die ohne Transparenz und Wettbewerb stattfinden. Das heißt, die Regierung verkauft Staatseigentum, aber niemand weiß, für wie viel und oft nicht einmal an wen. Man beschützt dadurch die Identität der Käufer, damit diese nicht aufgrund der Sanktionen Probleme bekommen.

Wie passen diese Privatisierungen mit dem sozialistischen Diskurs der Regierung zusammen?

In Venezuela spricht man nicht von Privatisierungen. Im Regierungsdiskurs heißt es allenfalls »Neustrukturierung von Aktiva« oder »Diversifizierung des Eigentums«. All dies geschieht auf Grundlage des Anti-Blockade-Gesetzes, das mit Verweis auf die Sanktionen jegliches Vorgehen ermöglicht. Die Verfassunggebende Versammlung, die von 2017 bis 2020 als regierungsnahes Parallelparlament bestand und gesetzgeberische Vollmachten ausübte, hat das Gesetz ausgearbeitet. Es steht über anderen Normen wie dem Arbeits- oder Umweltrecht. Auch sieht dieses Gesetz Gefängnisstrafen für jene vor, die über den Inhalt konkreter Privatisierungen öffentlich sprechen.

Wer profitiert von den Privatisierungen?

Mit Unternehmensverbänden hat es keine allgemeinen Absprachen gegeben. Viele der Unternehmer, die heute zum Zug kommen, stammen aus dem Regierungsumfeld oder sind Strohmänner. Sie investieren auch in Restaurants oder spezielle Importshops, die sogenannten Bodegones. Diese sprechen vor allem die Oberschicht an, die über Kaufkraft verfügt.

Im wohlhabenden Osten von Caracas finden sich mittlerweile gefühlt an jeder Ecke Bodegones. Wie funktionieren diese Import-Shops?

Die Bodegones sind eine Neuerung der vergangenen fünf, sechs Jahre. Die ersten waren sehr klein und haben ausschließlich importierte, exotische Produkte verkauft. Heute konkurrieren sie bereits mit traditionellen Supermärkten und haben auch Windeln, Reis, Maismehl oder Seife im Sortiment. Dieses Phänomen hat aber sehr wenig Potenzial, um eine produktive Entwicklung anzuschieben. Nicht nur ist es gegenüber der nationalen Produktion ein unfairer Wettbewerb. Es ist auch nicht nachhaltig und funktioniert momentan nur, weil die Regierung den Dollar-Kurs stabil hält. Dadurch aber sind viele Artikel sehr teuer geworden. Mittlerweile ist es billiger, wenn migrierte Venezolaner direkt Lebensmittel nach Hause schicken, als Geld zu senden, damit die Familienangehörigen Lebensmittel hier kaufen.

Welche Rolle spielen dabei die US-Sanktionen?

Sie haben die Wirtschaftskrise nicht ausgelöst. Die ersten Finanzsanktionen wurden erst im August 2017 verhängt. Der monatliche Mindestlohn betrug damals schon nur noch etwa umgerechnet fünf Dollar, war also bereits gut 95 Prozent niedriger als unter Präsident Hugo Chávez (1999-2013). Die Sanktionen von 2017 verhinderten, dass die Gläubiger ihre Schulden umstrukturieren konnten. Die härteren Sanktionen kamen Ende 2018 und 2019. Diese unterbanden den Export von Erdöl in die USA und entrissen dem venezolanischen Staat die Kontrolle über das US-Erdölunternehmen Citgo, das 6000 Tankstellen und mehrere Raffinerien umfasst. Auch den Export in andere Länder erschweren die Sanktionen deutlich, da die Schiffe kein venezolanisches Erdöl mehr transportieren wollen. Dadurch entstanden intransparente Handelswege, vor allem Richtung Asien, die anfällig für Korruption sind. Alle Transaktionen müssen in bar abgewickelt werden, weil Banken keine Zahlungen mehr an den staatlichen Erdölkonzern PDVSA akzeptieren.

Aber welchen Effekt haben die Sanktionen für die allgemeine Versorgungslage? Lebensmittel, Kleidung oder Medikamente zum Beispiel sind davon ja gar nicht betroffen.

Das stimmt, die Sanktionen haben aber dennoch Auswirkungen auf alle Bereiche. Das ist ein Effekt, der als »Overcompliance« bezeichnet wird. Die Bodegones dürfen importieren, was sie wollen, auch aus den USA. Aber niemand will diese Produkte an Venezuela liefern, weil das als rufschädigend empfunden wird. Aus diesem Grund tauchten Unternehmer auf, die Dreiecksgeschäfte betreiben. Sie eröffnen zum Beispiel ein Unternehmen in Panama, das mit venezolanischem Geld operiert und die Importe abwickelt. Und diese bringen mehr Korruption und Intransparenz mit sich.

Und das treibt die Preise für importierte Produkte zusätzlich in die Höhe?

Ja, und zwar auf das Drei- oder Vierfache des Niveaus in Europa oder den USA. Das betrifft auch Unternehmer, die nichts mit der venezolanischen Regierung zu tun haben und seit Jahrzehnten Konten in den USA unterhielten, die nun geschlossen wurden. Mittlerweile hat die internationale Gemeinschaft aber überwiegend ihre Position gegenüber der Regierung von Nicolás Maduro verändert. Es geht nicht mehr darum, dass die Leute infolge der Wirtschaftskrise auf die Straße gehen sollen, um die Regierung zu stürzen. Nun soll sich vielmehr die wirtschaftliche Lage verbessern, damit die Migration nicht weiter zunimmt und die Opposition sich neu organisieren kann.

Kann die wirtschaftliche Stabilität auch mittelfristig erhalten bleiben?

Dass die USA wichtige Exportländer wie Russland, Iran und Venezuela mit Sanktionen belegt haben, trägt wahrscheinlich zu einer weiteren Preissteigerung von Erdöl bei. Die Hoffnung ist nun, dass die Sanktionen mittels Verhandlungen mit den USA flexibler gestaltet werden, sodass Venezuela etwas mehr Erdöl exportieren kann. Dafür aber ist es wichtig, dass Unternehmen aus den USA und anderen Ländern in Venezuela investieren dürfen. Denn der staatliche Erdölkonzern PDVSA hat keine Mittel, um in die Produktion zu investieren. Wenn das passiert, wird die Regierung auch mittelfristig die Überbewertung der Währung aufrechterhalten können. Wenn nicht, wird der Bolívar, die venezolanische Währung, irgendwann stark abwerten müssen. Der reale Austauschwert wäre wohl vier- bis fünfmal so hoch. Die Inflation würde dann anziehen.

Die Hyperinflation hat neben Guthaben in der Landeswährung auch die Löhne pulverisiert. Wie kann es der Regierung gelingen, die Kaufkraft der Bevölkerung wieder herzustellen?

Das ist kompliziert. Zwischen 2013 und 2021 hat sich das venezolanische Bruttoinlandsprodukt um etwa 80 Prozent verringert. Es gibt kaum Kapital, um die Produktivität anzuheben und die meisten Produktionsanlagen sind völlig veraltet. Venezuela hat zudem sechs bis sieben Millionen Menschen durch Migration verloren, das entspricht fast einem Viertel der Bevölkerung. Ein Teil dieser Migranten ist gut ausgebildet und verfügt über technische Fähigkeiten, die nun fehlen. Viele Unternehmen, die wieder etwas aufbauen wollen, finden gar keine geeigneten, gut ausgebildeten Arbeitskräfte. Und um die Wirtschaft wieder aufzubauen, braucht Venezuela Investitionen, auch private.

Im Juli dieses Jahres hat das Parlament ein Gesetz über Sonderwirtschaftszonen verabschiedet. Was besagt dieses?

Dieses Gesetz ermöglicht es, geografische Gebiete zu definieren, in denen eine Art eigene Gesetzgebung gilt. Unternehmen, die in diesen Gebieten investieren, genießen Steuer- sowie Zollvergünstigungen und müssen sich nicht an bestehende arbeits- und umweltrechtliche Bestimmungen halten. Viele Leute sind daher dagegen, aber für einige Unternehmen ist es attraktiv. Das Problem für Investoren stellen aber auch die öffentlichen Dienstleistungen und die juristische Sicherheit um die Zonen herum dar. Daher werden wohl vorerst nur wenige Unternehmen aus verbündeten Ländern wie Iran oder der Türkei in den Sonderwirtschaftszonen aktiv werden.

Wie könnte der venezolanische Staat denn unter den gegenwärtigen Bedingungen die prekären öffentlichen Dienstleistungen verbessern?

Da Venezuela enorme Erdölreserven hat, könnte der Staat Kredite aufnehmen, die mit Erdöl beglichen werden. Das ist vorteilhafter als eine Verschuldung in Dollar. Er könnte also einen Teil der zukünftigen Erdölproduktion verpfänden und das Geld für Investitionen in Bildung oder das Strom- und Wassernetz nutzen, die derzeit kaum die Nachfrage bedienen können. Auch muss Venezuela seine internationalen Konten und Güter wiedererlangen, die derzeit eingefroren sind. Und den Banken wieder Kreditvergabe ermöglichen. All diese Dinge können nur durch einen politischen, humanitären und ökonomischen Pakt zwischen Regierung und Opposition geändert werden. Solange die politische Konfrontation weitergeht, wird sich das Land nicht erholen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!