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Die Hölle kämpft mit dem Himmel

Durch den Nebel: Currentzis dirigiert Wagner im Funkhaus Berlin

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 7 Min.

Einer dieser typischen grauen, kalten und trostlosen Berliner Novemberabende: mit mehrfachem Umsteigen fast eine Stunde unterwegs und schließlich im verlassenen Industriegebiet Oberschöneweide gelandet, auf der anderen Spreeseite des Plänterwalds. Dunkle Straßen in Nebel getaucht, an einer Tankstelle vorbei, und schließlich gelangen wir aufs unübersichtliche Gelände um das historische Funkhaus Nalepastraße. Nur sehr wenige Menschen unterwegs, die herumirren und sich fragen, ob hier tatsächlich ein Konzert mit Teodor Currentzis und dem Music-Aeterna-Orchester stattfinden wird – und falls ja, wo? Denn die Ausschilderung ist im Dunkeln so spärlich wie die Werbung für dieses Konzert, praktisch hat keine stattgefunden, es gab lediglich einen einzigen Newsletter.

Schließlich finden die Suchenden den seitlich verborgenen Eingang. Ein angestrahltes Plakat mit der Aufschrift »Teodor Currentzis live at Funkhaus Berlin« weist den Weg (winzig nur werden Orchester, »Gastsolisten« und Programm erwähnt). Und dann geht es durch einen wunderbar geschwungenen, langen Gang mit Parkett und hohen Fenstern in das auch mit Marmorplatten aus Hitlers Reichskanzlei ausgestattete Foyer des berühmten Großen Sendesaals im Funkhaus der DDR, 1952 nach Plänen des Architekten und Bauhaus-Schülers Franz Ehrlich und des Toningenieurs Gerhard Probst errichtet.

Die vielleicht 250 Menschen – meist junge, und man hört viel Russisch – finden Zugang in den legendären Sendesaal, heute »Studio 1« genannt, mit seiner wunderbaren Holzvertäfelung, den Halbsäulen und der stufenförmigen Vertiefung, der »Wanne«, in der das Orchester frei im Raum steht und sitzt. Gegenüber ist das Publikum auf leicht ansteigenden Flächen, jedoch leider komplett ohne Bestuhlung, man muss sich rückenfeindlich irgendwie auf dem Boden einrichten, es werden ein paar dünne Sitzkissen gereicht, in einem Saal, den Daniel Barenboim »als eines der besten Aufnahmestudios weltweit« schätzt.

»Wagner Ouvertures« ist das Programm überschrieben, obwohl Wagner eigentlich nur in seinen frühen Opern, dem »Holländer« und »Tannhäuser«, Ouvertüren im Potpourri-Charakter geschrieben hat – ab dem »Lohengrin« nennt er diese Stücke »Vorspiele«, und in der Regel sind diese Vorspiele eine Art klangideelle Zusammenfassung der folgenden Oper, gehen also weit über herkömmliche Ouvertüren hinaus. Hinzu kommt, dass eben nicht nur Ouvertüren zu hören sein werden, sondern auch eine Arie sowie der »Liebestod« aus dem »Tristan«. Besonders sorgfältig arbeiten die anonym bleibenden Veranstalter – weder auf dem Programmzettel noch auf den Tickets gibt es irgendeinen Hinweis – offensichtlich nicht.

Das Konzert beginnt mit dem »Parsifal«-Vorspiel (einer »Ouvertüre«, wie das Programm behauptet) – die Aufführung dieses Stücks muss als eher misslungen bezeichnet werden. Über die ungenauen Einsätze von Streichern und Bläsern könnte man hinwegsehen – dass aber an keiner Stelle der geheimnisvolle Bayreuth-Sound entsteht, der von einer Art Unortbarkeit geprägt ist, nimmt dieser Musik ihre Mystik. Das fünftaktige Abendmahlmotiv, mit dem das Vorspiel im Unisono von Violinen und Celli mit einer Bläserkolorierung »sehr langsam und sehr ausdrucksvoll« anhebt, ehe die Blechbläser antworten, entbehrt jeglichen Geheimnisses. Auch später, beim Grals- und beim Glaubensmotiv, fehlt der Zauber. Das Stück schwillt und sinkt vor sich hin, und man sehnt sich nach dem Klangreichtum und der beiläufigen Perfektion, mit der die Staatskapelle und Daniel Barenboim wenige Kilometer nordöstlich diese Musik zu zelebrieren vermögen.

Doch dann, mit einem Mal, verändert sich alles. Die berühmte »Tannhäuser«-Ouvertüre oszilliert zwischen Pilgermarsch und Venusbergmusik, zwischen sinnlicher und »reiner« Liebe, zwischen Venus und Elsa, zwischen vermeintlich »sündiger«, von Verlockung und Verführung geprägter Liebe und »frommem« Lebenswandel. Das Individuum als ein innerlich zerrissener »homo duplex«, wie Ulrich Schreiber diesen Konflikt benennt. Diese Gegenüberstellung zeichnet Currentzis zunächst etwas langsam und pathetisch, dann jedoch in allen Farben schillernd eindrucksvoll nach, und das groß besetzte Music-Aeterna-Orchester folgt ihm plötzlich enthemmt und entfesselt, um im Tannhäuser-Jargon zu bleiben. Innig der Auftakt der Bläser, seelenöffnend der Einsatz der Celli und Bratschen, und als die Posaunen dann fortissimo das jetzt wie in Stein gemeißelte Leitthema übernehmen, begleiten die nervös tosenden Triolensechzehntel der Violinen wie wildgewordene Walkürenklänge.

Glühende Farben prägen diese Interpretation, und wir erleben die Venusverfallenheit Tannhäusers als Teil eines extrem sinnlichen »wagnérisme«, den Charles Baudelaire nach der Pariser Uraufführung der erweiterten Fassung des »Tannhäuser« begründete, als »Kampf der zwei Prinzipien, die das menschliche Herz zu ihrem Hauptschlachtfeld erwählt haben, d.h. des Fleisches mit dem Geiste, der Hölle mit dem Himmel, Satans mit Gott.« Baudelaire wähnte den Wagner des »Tannhäuser« als Bruder im Geiste, der den »Konflikt zwischen Leidenschaft und Ordnung« (Schreiber) behandelt – während Wagner sich seinerzeit im Grunde fürchtete, als Kronzeuge für die von Heine und anderen geforderte und von Feuerbach philosophisch begründete Sinneslust zu stehen. Uns Hörenden im Jahr 2022 kann das egal sein, wir können uns der von Currentzis im Geiste Baudelaires entfachten musikalischen Sinneslust hingeben und Momente der Weltflucht erleben, wie sie sonst nur die Popmusik bereithält, und das auch nur in wenigen Momenten. Diese Musik wird noch lange in den Köpfen und Herzen der Anwesenden herumspuken.

Der Bariton Matthias Goerne singt beseelt das sentimentale Lied »O du mein holder Abendstern«, gefolgt von Vorspiel und dem »Liebestod« aus »Tristan und Isolde«. Und hier ist Currentzis, dieser Überwältigungskünstler par excellence, ganz in seinem ureigensten Metier: Wie er sich zu Beginn vor die Celli stellt, sie gleichsam betört und durch die mit Vorhalten nach oben und unten durchsetzte Tristan-Harmonik leitet, ist ebenso faszinierend wie berauschend. Georg Knepler hat darauf hingewiesen, dass es »unrichtig« wäre, »der ›Tristan‹-Musik als ganzer ›Rauschcharakter‹ zuzuschreiben« – dass es aber »ebenso unrichtig« wäre, »zu übersehen, dass an entscheidenden Stellen (…) in der Tat eine Art von Rauschwirkung erzielt wird«. Es sind besonders die geradezu endlosen Steigerungen, bei denen kurze, sich immerzu aufwärts windende Sequenzen eine besondere Rolle spielen, die die von Baudelaire so geliebte rauschhafte, ja geradezu opiatische Wirkung erzielen – und die Currentzis genüsslich bis zum Allerletzten auskostet. Was für ein fiebriger Liebeswahn! Man wünschte, diese Steigerungen würden niemals enden und ewig fortgeführt werden.

Auf den Schluss dieses Wagner-Programms, das für eine Veröffentlichung aufgezeichnet wurde, hätte der Rezensent lieber verzichtet: Das »Meistersinger«-Vorspiel mit seinem militaristischen Krach, bestens geeignet für die Eröffnung von Reichsparteitagen der NSDAP (wie 1935 in Nürnberg) und als »Anregungsmittel einer nationalen Wehrbereitschaft« (Schreiber). Oder, wie Woody Allen einmal bemerkte: Bei dieser Musik würde er »am liebsten in Polen einfallen«. Da gerät die Überwältigung an ihre Grenzen oder überschreitet diese sogar. Richard Wagner ist eben durchaus »auch etwas Friseur und Charlatan«, wie Gottfried Keller meinte, oder »tieffragwürdig in Bezug auf den Adel, die Reinheit und Gesundheit seiner Wirkungen«, so Thomas Mann.

Lieber wäre man vielleicht mit Musik aus der »Götterdämmerung« nach Hause gegangen, mit deren »Darstellung des undurchdringlichen Dunkels, des Rätselhaften, der Verwirrung« (Knepler). Oder mit dem »Lohengrin«-Vorspiel, das in diesem Konzert auf den »Liebestod« folgte: Es beginnt im hohen Flageolett der achtfach geteilten Violinen, abgerundet mit sanften Flöten- und Oboentönen. Eine flirrende, zauberische Welt zeichnen Wagner und Currentzis da, »Musik von ätherischer Stofflosigkeit, ein Hauch mehr als ein Klang«, um ein letztes Mal Ulrich Schreiber zu zitieren. Eine unvergleichliche Klangkomposition, wie auch Wagners Zeitgenossen meinten, Berlioz etwa und natürlich Franz Liszt, der 1850 die Uraufführung in Weimar dirigierte. Ein Traum, eine Musik wie nicht von dieser Welt zunächst, die dann in einem zum Bläserfortissimo gesteigerten Crescendo förmlich explodiert – laut Wagner sollen in der Brust des Hörers (Wagner kannte kein Gendern) »alle erdrückten Keime der Liebe schwellen«, bis er »in anbetender Vernichtung niedersinkt«. Da haben wir sie wieder, die Überwältigung, die Wagner und eben auch Currentzis so gut beherrschen und die Letzterer geradezu magisch inszeniert. Ob da alle mitkönnen und wollen? An dem Abend im Funkhaus Nalepastraße war sich das Publikum einig: ein unbedingtes, begeistertes Ja!

Dann allerdings ging es wieder hinaus in die Kälte, in den Nebel, in die Realität. Und diejenigen, die nicht mit dem Auto kamen, standen noch lange an der Haltestelle und warteten auf die selten fahrende Tram. Endstation Sehnsucht.

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