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Probleme mit der Selbstfindung

Weder Hegel-Notiz noch Foucault-Interview retten die Philosophie

Neuentdeckte Mitschriften zu Hegels Vorlesung gibt es jetzt zwar, die gesellschaftliche Rolle der Philosophie muss aber noch gefunden werden.
Neuentdeckte Mitschriften zu Hegels Vorlesung gibt es jetzt zwar, die gesellschaftliche Rolle der Philosophie muss aber noch gefunden werden.

Einen »Jahrhundertfund« nannte die Universität die Entdeckung der bisher unbekannten Vorlesungsmitschriften des Hegel-Schülers Wilhelm Carové. Am 24. November wurde bekannt gegeben, dass der Jenaer Professor Vieweg in der Diözesanbibliothek des Erzbistums München und Freising fünf Archivkartons mit knappen 4000 Seiten Handschriften gefunden hatte. Diese Notizen zu den Vorlesungen Hegels vor 200 Jahren sollen jetzt zu »Carovés Hegel-Mitschriften« ediert werden und jede Menge Drittmittelforschung ermöglichen: ein Konjunkturprogramm für die Hegel-Forschung. 

Jenseits dessen dürfte der Fund kaum eine Sensation sein. Die Erwartung, dass die Mitschriften zu »fast allen Teilen von Hegels enzyklopädischer Architektonik« etwas Neues liefern würden, ist kaum gerechtfertigt. Was sollte das sein? Endlich ein ausgeräumtes Missverständnis über dessen philosophisches System? Die Klärung einer jahrhundertealten Kontroverse? Nicht einmal, dass die Mitschriften zum allgemeinen Verständnis Hegels beitragen werden, steht in Aussicht. Am Ende macht es alles vielleicht nur komplizierter. 

Aber dies sind eben die Sensationen, die man von der Philosophie erwarten kann. Denn ihrem Selbstanspruch nach schreitet sie nicht – wie die Wissenschaften – über aufeinander aufbauende Erkenntnisse fort. Ihre Aufgabe liegt eher in der ständigen Neubewertung des Wissens, bis hin zu sich selbst. Das verschafft ihr auch jene Selbstfindungsprobleme. Keine andere Disziplin hat ein vergleichbares Konvolut an Monografien hervorgebracht, die »Was ist Philosophie?« heißen. 

Die Neuauflage großer Denker über verschiedenste Anlässe gehört also zum Geschäft der Philosophie. Momentan wirbt die neueste Ausgabe der Zeitschrift »kultuRRevolution« mit einem bisher unbekannten Interview Michel Foucaults von 1977. Darin dreht der französische Starphilosoph seinen Gesprächspartnern von der trotzkistischen Wochenzeitung »Rouge« Wein an und lässt dann plötzlich die Klassenkampfbombe platzen. Bekennt er sich schließlich doch zum Marxismus, den er zeit seines Schaffens als Sturm im Wasserglas und ökonomistischen Reduktionismus abgetan hat? Natürlich nicht. Foucault bleibt, was er ist, wie man es auch dreht und wendet.

Aufschlussreich sind an den philosophischen Entdeckungen weniger die vermeintlich neuen Perspektiven auf das Denken, sondern das Bedürfnis nach Neuinterpretation selbst: Die Langeweile einer strengen Erkenntnis, die entsprechende Konsequenzen hätte, ist unaushaltbar. Aus dem unbehaglichen Gefühl, dass eigentlich schon alles gesagt ist, wird die Hoffnung, dass die großen Denker vielleicht doch noch mehr gesagt haben oder sogar etwas ganz anderes. Wie und warum sich solche Konjunkturen und Innovationszyklen perfekt in die Verwertungszwänge einer Ökonomie der Universität einpassen – diese Erkenntnis wäre eine wirkliche Aufgabe für die Philosophie. Die Schlagzeile dafür könnte sein: »Jahrhunderterrungenschaft: Denken begreift sich endlich als gesellschaftliches Produkt«.

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