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- Sexarbeit in Berlin
Sexarbeit sichtbar machen
Ein Audio-Rundgang zeigt, wie die Branche den Bülowkiez und Berlin – gegen alle Widerstände – geprägt hat
An diesem Donnerstagabend ist es kalt und laut an der U-Bahnstation Bülowstraße. Es schneit, und vor lauter Verkehrslärm ist Emma Pankhurst kaum zu verstehen, während sie versucht, rund 30 Zuhörer*innen ins Jahr 1885 zurückzuversetzen. Damals gab es noch keine Autos, aber die Fertigstellung des Bahnhofs Bülowbogen brachte die ersten Züge in den Kiez in Schöneberg. Emma Pankhurst – ihr Name ist an die britische Suffragette Emmeline Pankhurst angelehnt – trägt ein rosa-rot-gestreiftes Kleid, einen roten Papierschirm, Lippen und Wangen sind rot geschminkt.
Sie führt an diesem Abend durch die Geschichte der Sexarbeit im Bülowkiez vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute. »Der Bau des Bahnhofs hat dieses Viertel grundlegend verändert«, erklärt sie. Mit den Zügen kamen viele Arbeiter*innen und Arbeitsuchende in die Gegend. Die Bevölkerung Berlins wuchs von 400 000 auf über 1,5 Millionen Menschen an, Wohnungskrise und Prekarität waren die Folge. »Viele Frauen und Mädchen haben sich der Sexarbeit zugewendet, um bei den hohen Mieten zu überleben«, sagt River Roux zu »nd«. Sie ist Sexarbeiterin und hat die historische Recherche für den Rundgang übernommen, der seit Donnerstag auch als kostenloser Audio-Walk über die Berlin-History-App verfügbar ist.
An zwölf Stationen berichten Berliner Sexarbeiter*innen von der Geschichte ihrer Branche sowie von eigenen Erfahrungen. Auch Fotos der historischen Orte gibt es in der App, die 2019 als »digitale Plattform für alle Geschichtsfelder entstanden ist«, sagt Rainer Klemke, Vorsitzender des Vereins Berlin History, bei der Vorstellung des neuen Rundgangs mit Emma Pankhurst zu »nd«. Ziel des Projekts in Kooperation mit der Sektion für Sexarbeiter*innen der Freien Arbeiter*innen Union (FAU) Berlin und dem Schwulen Museum ist es, die Allgegenwart von Sexarbeit auf Berlins Straßen aus Perspektive der Sexworker zu veranschaulichen, deren Beitrag zur Geschichte der Stadt bislang weitgehend unsichtbar geblieben sei. »Wir waren schon immer überall«, das ist der Titel des Audio-Rundgangs, der gleichzeitig zeigt, mit welchen Widerständen Sexarbeiter*innen seit jeher zu kämpfen hatten.
Da der Bordellbetrieb schon 1864 verboten wurde, mussten Sexarbeiter*innen in illegale Bordelle, Stundenhotels oder auf den Straßenstrich ausweichen. Der Strich im Bülowkiez war der meistfrequentierte in Berlin, der Bülowbogen ein Treffpunkt für Sexarbeiter*innen und Dealer. Dazu trugen auch der entstehende Tourismus und das Nachtleben bei. »Viele Menschen kamen hierher, um sexuelle Freiheit zu erleben. Das hat Berlin zu dem gemacht, was es ist«, sagt River Roux.
So führt die Tour an queeren Bars, schwulen Buchhandlungen und Fetisch-Läden vorbei. »Schöneberg ist heute als Queer-Mekka in der ganzen Welt bekannt«, sagt Emma Pankhurst bei der zweiten Station in der Schwerinstraße. In den Goldenen Zwanzigern war hier der »Toppkeller«, in dem lesbische und bisexuelle Sexarbeiterinnen arbeiteten. Die Präsenz der Sexworker habe auch die queere Community angezogen. Beide galten als »abartig, verwerflich und illegal«, so Pankhurst. Eine Registrierungspflicht sollte der Polizei Kontrolle über die Branche geben. Ein Abolitionismus entstand, der die Sexarbeit ausrotten wollte. Dazu trug auch die Angst vor Geschlechtskrankheiten bei, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer weiter ausbreiteten.
River Roux erinnert vieles von dem, was damals passierte, an die Gegenwart. Eine Gruppe von Berliner Ärzten setzte 1927 das Geschlechtskrankheitengesetz durch, das auch zum Ende des Registrierungssystems und damit zur Entkriminalisierung der Sexarbeit führte. Dafür plädiert heute auch die Weltgesundheitsorganisation, da Geschlechtskrankheiten nur durch Aufklärung und sichere Arbeitsbedingungen eingedämmt werden können. Dennoch schreibt das Prostituiertenschutzgesetz Sexarbeiter*innen wieder die Registrierung vor, woran sich laut Roux jedoch nur rund zehn Prozent der Sexworker halten. »Ich werde mich auf keinen verdammten Fall registrieren lassen. Das ist absurd. Warum sind wir die Einzigen, die registriert sein müssen, um zu arbeiten?«, fragt eine Betroffene in einem Interview im Audio-Walk.
Die Registrierung verschaffe der Polizei Zugriff auf Bordelle und Wohnungen. Die Nicht-Registrierung jedoch war während der Corona-Lockdowns damit verbunden, keine Hilfen zu bekommen. So mussten viele Sexworker trotz Verbots weiterarbeiten und waren erst recht polizeilicher Repression ausgesetzt. »Dass wir zu schmutzig sind, um arbeiten zu können, war für viele Kolleg*innen sehr belastend«, sagt River Roux. 2021 gründete sich erstmals eine Gewerkschaft, der Arbeitskreis Sexarbeit in der FAU, die für die Entkriminalisierung der Branche kämpft.
Der Rundgang führt am früheren »Transvestitenlokal« »Eldorado« in der Motzstraße vorbei, das 1933 von den Nazis geschlossen wurde, die die Gäste des Nachtclubs als »entartete Asoziale« betrachteten. Die Reichstagsbrandverordnung führte zur Verhaftung Tausender Sexarbeiter*innen; viele kamen in Konzentrationslager, die Branche wurde erneut kriminalisiert – zugleich wurden Bordelle mit Zwangsarbeiterinnen eingerichtet. Am Nollendorfplatz gibt es seit 1989 die Gedenktafel »Rosa Winkel«, die an die Verfolgung und Ermordung von Schwulen und Lesben im Dritten Reich erinnert – für Sexarbeiter*innen, die mit dem »Schwarzen Winkel« gekennzeichnet wurden, fehlt eine solche Gedenkstätte bis heute.
40 Jahre später gründete sich im ehemaligen »Eldorado« Berlins ältestes Jugendzentrum »Drugstore«. Um die Ecke, in der Martin-Luther-Straße, befindet sich seit 2004 das Bordell »Agentur Liberty« und noch eine Querstraße weiter ein Stundenhotel. Das Klischee, dass Sexarbeiter*innen ihre Dienste nur auf der Straße anböten, sei falsch. Heutzutage würden viele online arbeiten oder Pornos drehen, andere seien in Bordellen oder Massagestudios tätig, wieder andere fänden ihre Kund*innen in Hotels, Bars oder Clubs. »Wir sind ein Regenbogen«, sagt Emma Pankhurst. Doch in den 80er Jahren seien viele billige Hotels geschlossen worden, um die Sexworker zu verdrängen. Viele von ihnen waren so gezwungen, an öffentlichen, zum Teil schmutzigen und gefährlichen Orten zu arbeiten. »Die Gentrifizierung lässt viele von uns weiterhin buchstäblich im Regen stehen«, kritisiert Pankhurst.
Darin sieht River Roux ebenfalls eine Kontinuität, die sich vom Bau des Bülowbogens bis in die Gegenwart zieht. Auch heute gebe es für Sexworker viel zu wenige sichere, bezahlbare Arbeits- und Wohnorte. So erzählt eine Person, die für den Audio-Walk interviewt wurde, dass sie mit Kund*innen häufig auf öffentliche Toiletten gehe. Dabei ist Roux wichtig zu betonen, dass jeder Arbeitsort gut sei, den eine Person selbst für sich gewählt habe: »Wir wollen nicht gerettet werden.« Was jedoch die Stadtentwicklung angeht, meint sie: »Die Geschichte wiederholt sich. Wir haben seit 100 Jahren nicht dazugelernt.« Vor allem migrantische und trans Frauen seien von Verdrängung betroffen. Im Bülowkiez arbeiten heute viele queere Osteuropäer*innen, die nach Berlin kamen, da ihre Identität in den Heimatländern kriminalisiert werde.
Die Tour führt schließlich zu einem Hausprojekt für Frauen in der Potsdamer Straße 139, das auch den Verein Hydra beherbergt, der sich für die Rechte von Sexarbeiter*innen einsetzt und in der Aidskrise eine entscheidende Rolle spielte. Hydra initiierte eine der ersten Kampagnen zur Nutzung von Kondomen und klebte in eine Ausgabe ihres Magazins »Nachtexpress« Kondome – in einer Zeit, da Kondome noch als Tabu galten. »Das war damals eine unglaublich skandalöse Aktion«, erzählt River Roux. Sie bedauert, dass »völlig in Vergessenheit geraten sei«, was Sexarbeit zu Verhütung und Eindämmung von Geschlechtskrankheiten geleistet hat.
Allgemein werde der Beitrag von Sexarbeiter*innen zur Berliner Kultur und Gesellschaft viel zu sehr verdrängt. Ihre Recherche habe gezeigt, »was Sexarbeit für eine Schlagkraft hat«, sagt Roux. Das sei »wahnsinnig empowernd«. Das soll den Nutzer*innen der Audio-Führung vermittelt werden, genau wie das, was noch zu tun ist: die Registrierungspflicht abschaffen und Sexarbeit entkriminalisieren.
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