- Politik
- Pflegereform
Pflege weiter am Limit
Das Pflegeentlastungsgesetz soll die personelle Versorgung in den Krankenhäusern verbessern. Fraglich ist, ob das ausreicht
Am Freitag verabschiedete der Bundestag das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz. Es soll nach dem Willen Karl Lauterbachs der Auftakt einer umfassenden Reform des Pflegebereichs sein, die dafür sorgen soll, »dass die medizinische Versorgung im Vordergrund steht – nicht ökonomische Anreize«. Zu Anfang der Bundestagsdebatte bezeichnete er das Gesetz als »Revolution«, die das Gleichgewicht zwischen Medizin und Ökonomie wieder herstelle.
In einem ersten Wurf geht es in diesem Gesetz auch um die Personalausstattung in Krankenhäusern. Der Koalitionsvertrag hatte vorgesehen, die Arbeitsbedingungen dort »schnell und spürbar« zu verbessern. Dazu sollte die Pflegepersonalregelung 2.0 (PPR 2.0) als Übergangsinstrument eingeführt werden – und zwar kurzfristig und »mit dem Ziel eines bedarfsgerechten Qualifikationsmixes«.
Ein Jahr später ist diese Selbstverpflichtung abgeschwächt worden: Am Freitag hat das Parlament eine vom Gesundheitsministerium noch festzulegende Personalbemessung beschlossen. Gegen diese kann das Finanzministerium allerdings ein Veto einlegen. Die Stärkung der Pflege ist an Bedingungen geknüpft, die jenseits der Pflege liegen. Es ist also ausgerechnet nicht so, dass nun die Qualität medizinischer Versorgung unbeeinträchtigt von ökonomischen Zwängen als Messlatte für die Personalausstattung dient. »Völlig inakzeptabel« findet Verdi-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler, »dass Bundesfinanzminister Christian Lindner bei der Personalausstattung plötzlich mitreden soll. Es braucht genug Personal, um Patienten sicher und gut zu versorgen, keine Personalausstattung nach Kassenlage.« Mit Lindner (FDP) ist ein Finanzminister im Amt, der einerseits mit Nachdruck die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse durchsetzen will und sich andererseits kategorisch sperrt, sobald neue Besteuerungsvorhaben vorgeschlagen werden. Eine klare Priorisierung der Pflege, die der Dringlichkeit der aktuellen Krise entspricht, ist damit nicht zu erwarten.
In seltener Einigkeit kritisierte sowohl die Union als auch die Linkspartei diesen Finanzvorbehalt. In der Bundestagsdebatte ging niemand aus der Koalition außer der grünen Abgeordneten Kordula Schulz-Asche auf diese Kritik ein. Ihr zufolge könne diese Bedingung ruhig im Gesetz stehen bleiben, da das sowieso keinen Einfluss habe. Wenn Gesetze und Maßnahmen die Bereiche anderer Ministerien beträfen, fänden ohnehin Absprachen statt. Warum das Finanzministerium dann extra mit einem Vetorecht bedacht wird, blieb das Geheimnis der Koalition.
Die fehlende Priorisierung der drängenden Probleme in der Gesundheitsversorgung zeigte sich in der parlamentarischen Debatte: Vertreter*innen der Ampel sprachen ausführlich über die Verbesserungen für Pädiatrie und Hebammen. Um die Hebammen in das Gesetz aufzunehmen, brauchte es allerdings gesellschaftlichen Druck und eine Petition mit 1,6 Millionen Unterschriften. Fortschritte gibt es, aber reichen diese Reformen aus, um von einer Revolution zu sprechen?
Für Lauterbach persönlich mag es eine Revolution sein. Der Gesundheitsökonom galt vielen Beobachter*innen von Anfang an zwar als medizinisch bewandert, aber pflegefern. Misstrauisch machte auch, dass er in den 90ern als Staatssekretär den neoliberalen Umbau des Gesundheitssektors vorangetrieben hatte. Sein Renommee hat er sich durch seine Krisenkommunikation zu Beginn der Pandemie, nicht durch vertiefte Kenntnisse der Institutionen und vor allem nicht als Fürsprecher für Pflegekräfte verdient. Dass er jetzt die Versorgung zu seinem Thema macht, ist für ihn selbst vermutlich tatsächlich ein Umsturz.
Dass die Personalbemessungen verhandelbar sind, hat Lauterbach einen Tag vor der Abstimmung im Parlament sehr deutlich gemacht. Auf den Kinderintensivstationen ist seit Monaten das Personal knapp. Eine Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) zeigte, dass daher 40 Prozent der Betten nicht belegt werden können. Michael Sasse von der Medizinischen Hochschule Hannover konstatierte gegenüber dem SWR: »Die Situation ist so prekär, dass man wirklich sagen muss: Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können.«
Besonders bedrohlich macht die Lage eine akute Ansteckungswelle mit RS-Viren. Die Situation sei besorgniserregend, sagt Karl Lauterbach. Deswegen hebe man jetzt bestehende Personaluntergrenzen auf: »Wir ermöglichen es den Krankenhäusern, Personal in die Kinderstationen zu verlagern.«
Aber die aktuellen Untergrenzen sind ein Mindeststandard. Weniger Personal einzusetzen, bedeutet, die Patient*innensicherheit zu gefährden. Um eine Krise zu meistern, soll eine andere verschärft werden. Die gleichzeitig beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der RSV-Welle hingegen sind sehr übersichtlich und unzureichend. Die Lehre aus der Corona-Pandemie scheint zu sein, dass Schutzmaßnahmen, die in der Bevölkerung umgesetzt werden müssten, nicht zu vermitteln sind. Die Pflege soll es einmal mehr allein richten.
Erschwerend kommt hinzu: Diese Art Krisen wird mutmaßlich regelmäßiger und in kürzeren Abständen auftreten. Die RSV-Welle ist längst noch nicht auf ihrem Höhepunkt, gleichzeitig baut sich eine Influenza-Welle auf, von der nicht absehbar ist, wie sie sich auswirken wird.
Es gibt verschiedene Theorien dazu, warum dieses Jahr Atemwegsinfektionen besonders viele Probleme bereiten. Eine lautet, dass jene Jahrgänge, die während der Pandemie keinen Immunschutz aufgebaut haben, die Infektion jetzt gleichzeitig nachholen und es deswegen zu einer Häufung auch schwerer Verläufe kommt. Erste Daten aus Dänemark lassen an dieser »Immunschuld« genannten und auch bei Lauterbach populären These allerdings Zweifel aufkommen. Eine andere Vermutung ist, dass eine Corona-Infektion nachhaltig das Immunsystem schädigt, weswegen der Schutz in der Bevölkerung insgesamt gesunken ist. Das ist die bisher schlüssigste Erklärung und sie würde bedeuten: Die Covid-Pandemie ist auch ein Durchlauferhitzer für weitere Pandemien.
Um Unvorhersehbarkeiten austarieren zu können, bräuchte es ein robustes Gesundheitssystem, das Spielräume für Reaktionen hat. Das jetzt beschlossene Gesetz lässt aber Zweifel daran, ob das überhaupt das Ziel ist. Unklar ist, warum die Bundesregierung trotz der Dringlichkeit darauf verzichtet hat, bereits erprobte Bedarfsermittlungsverfahren aus dem Ausland zu übernehmen und stattdessen eigene Erfassungsmethoden testen möchte. Die bisher entwickelten Instrumente sind in der Kritik, weil sie erfassen sollen, was gerade getan wird, und nicht etwa, was pflegerisch angemessen wäre. Das würde bedeuten, man nähme einen Zustand, den Pflegende regelmäßig als »kurz vor dem Kollaps« beschreiben, und erklärte ihn zum Standard. Angesichts dieser Umstände kam Marcus Mai von der Pflegekammer Rheinland-Pfalz auf dem Pflegetag Anfang Oktober zu dem Urteil, die jetzigen Instrumente zur Bedarfserfassung schienen zwar geeignet, seien es aber nicht: Es sei, als wolle man ein Raumthermometer zur Messung der Körpertemperatur verwenden.
Im Gegensatz dazu ist Verdi eher optimistisch angesichts des Gesetzes. »Endlich wird die Überlastung der Pflegebeschäftigten in Krankenhäusern konkret angegangen«, sagt Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. Verdi war zusammen mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat an der Entwicklung der PPR 2.0 beteiligt. Dieses Urteil ist überraschend milde, weil konkret viele Fragen offenbleiben und in die Zukunft verschoben werden, zum Beispiel welche Pflegebedarfsbemessung schlussendlich eingesetzt werden soll. Die bisherigen Vorschläge sollen erstmals erprobt werden, über die Anwendung entscheidet das Gesundheitministerium. Der Deutsche Pflegerat ist da deutlich harscher in seinem Urteil: »Unzureichend geregelt sind der Aufbau und die Finanzierung des gesamten Entwicklungsprozesses hin zu einer bundesweit verbindlichen Personalbemessung in sämtlichen Krankenhausbereichen.« Die besten Absichten nutzen nichts, wenn die Politik nicht für ihre Umsetzung sorgt.
Von einer Entlastung der Pflege kann, seit Karl Lauterbach im Amt ist, ohnehin nicht die Rede sein. Der Verdacht, dass er zwar die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung im Blick hat, aber nicht die Belange und Bedürfnisse der in der Pflege Arbeitenden, erhärtet sich. Und fehlende oder komplett überlastete Pfleger*innen können kranke Menschen eben auch nicht gut versorgen. Beispielhaft dafür ist die seit Sommer geltende Maßgabe, dass symptomlos an Covid erkrankte Pflegende arbeiten gehen dürfen, obwohl damit das Risiko auf Longcovid steigt.
Wie lang und aufreibend der Kampf der Pflegenden um die Verbesserung der Versorgungslage ist, zeigen auch die Entwicklungen im Berliner Krankenhausstreik. Letztes Jahr hatten Beschäftigte über Monate darum gekämpft, den Tarifvertrag Entlastung durchzusetzen, um überhaupt wieder in einen arbeitsfähigen Zustand zu kommen. Der Streik war erfolgreich, aber die Krankenhausleitungen sperren sich seither, die getroffenen Vereinbarungen umzusetzen. Die Gewerkschaftsaktivistin und Anästhesiepflegerin Silvia Habekost schimpfte deswegen öffentlich, es sei »zum Kotzen«, dass »Vivantes jede Lücke im Vertrag« ausnutze. Wegen dieser Aussage sollte sie abgemahnt werden, das sei konzernschädigend. Das entspricht jahrzehntelanger politischer Praxis: immer über Pflegende sprechen, nicht mit ihnen. Ursprünglich war geplant, die Belegschaften, die bereits Haustarifverträge mit Personalvorgaben erkämpft hatten, aus dem Gesetz herauszunehmen. Diese Ungleichbehandlung wurde immerhin gestrichen.
Lauterbach hat in seiner Rede eine Revolution der Krankenhäuser angekündigt. Er hat damit eine ganze Reihe von Gesetzesvorhaben gemeint, insbesondere auch die Abschaffung des Fallpauschalensystems. Angesichts des aktuellen Gesetzes ist aber fraglich, ob es tatsächlich zu einer Entlastung der Pflege kommt. Es ist schlicht nicht mehr viel Zeit.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!