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Wenn die Lieferkette reißt

Ökonomen beziffern Schaden in der Industrie durch Materialengpässe auf 64 Milliarden Euro

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 4 Min.

Nichts steht mehr für das größte Problem, das die Wirtschaft neben der Coronakrise, dem Fachkräftemangel und der Energiekrise umtreibt, als die »Ever Given«. Sechs Tage lang blockierte das havarierte Containerschiff im März 2021 den Suezkanal. Als das Schiff endlich freigelegt wurde, warteten 370 Schiffe auf die Weiterfahrt. Die Blockade führte Schätzungen zufolge zu einem täglichen Transportausfall von Ladungsgütern im Wert von über neun Milliarden US-Dollar.

Die »Ever Given« war bei weitem nicht der einzige Grund, warum die globalen Lieferketten in den vergangenen Monaten stockten. Zuerst war es die gestiegene Nachfrage nach den Lockdowns, die zu Engpässen führten, Chinas No-Covid-Strategie führte immer wieder zu Schließungen wichtiger Exporthäfen, dann sorgte der Ukraine-Krieg zu Material-Engpässen etwa bei der hiesigen Autoindustrie. Das Problem ist längst auch Thema in der internationalen Politik. Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf Staatsbesuch in Washington kritisierte, dass sich die USA unabhängiger vom Welthandel machen wollen, konterte US-Präsident Joe Biden, dass man sich nicht auf Lieferketten in anderen Teilen der Welt verlassen wolle.

Dabei hat auch die Bundesregierung das Thema längst auf dem Plan. Nicht von ungefähr war eine der ersten Ankündigungen von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) im Dezember vergangenen Jahres, mit Milliardensubventionen die heimische Chipproduktion fördern zu wollen. »Die weltweiten Lieferengpässe zeigen: Deutschland und Europa haben keine Zeit zu verlieren«, so Habeck. »Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, unseren Bedarf an Mikroelektronik selbst zu decken und Produktion wieder stärker nach Deutschland und Europa holen.«

Zwar hat sich die Situation in der Industrie mittlerweile etwas gebessert. So berichteten im November laut einer Umfrage des Münchner Ifo-Instituts noch 59,3 Prozent der befragten Unternehmen von Materialknappheit. Das ist der niedrigste Wert seit April 2021; im Oktober waren es 63,8 Prozent. Dennoch ist der Schaden für die Wirtschaft gewaltig: Weil Vorprodukte aus dem Ausland fehlten, konnte die deutsche Industrie von Anfang 2021 bis Mitte 2022 Güter im Wert von knapp 64 Milliarden Euro nicht herstellen. Dies geht aus einer vergangene Woche veröffentlichten Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor.

Demnach haben die Lieferengpässe die Konjunkturerholung nach der Coronakrise massiv gedämpft. Nach den Berechnungen des IMK wäre die Wirtschaftsleistung in Deutschland ohne die Materialengpässe in der Industrie Ende 2021 um 1,2 Prozent und Mitte 2022 sogar 1,5 Prozent höher gewesen. Diese Zahlen untermauern den Bedarf, der Resilienz der Lieferketten künftig zulasten der Kosteneffizienz ein höheres Gewicht beizumessen», schreiben die Forscher.

Ein Großteil des Schadens entfällt auf die Autobranche. Auch wenn die hiesigen Autobauer aufgrund ihrer hohen Gewinnmargen weiterhin satte Gewinne einfahren, sind sie im besonderen Maße von den Liefergenpässen betroffen. Das IMK schätzt, dass deren Wertschöpfung in Deutschland wegen des Mangels an Vorprodukten um knapp 31 Milliarden Euro geringer ausfiel, obwohl zahlreiche Bestellungen vorliegen. In der Autobranche dürfte der Wertschöpfungsverlust den Wert der fehlenden Komponenten, häufig Halbleiter, um rund das Zehnfache übersteigen, so die Berechnungen der IMK-Experten Thomas Theobald und Peter Hohlfeld.

Laut den Ökonomen ist für die Verluste auch eine falsche Managementstrategie verantwortlich, die zulasten der Produktionssicherheit ging: «Zu stark erscheint bisher der Fokus des Managements auf Kosteneffizienz gerichtet zu sein. Eine stärkere Resilienz, mehr Lagerreserven, Diversifikation und Nachhaltigkeit der Lieferketten können in einem solchen Umfeld zukünftig bessere Resultate bringen», schreiben sie in ihrer Studie. Dies gelte umso mehr, da die No-Covid-Strategie in China und neue geopolitische Spannungen im Zusammenhang mit den Konflikten in der Ukraine und mit Taiwan als international bedeutendem Halbleiterstandort neue Lieferengpässe nach sich ziehen können.

So sieht man beim Ifo-Institut in München den jüngsten Rückgang beim Materialengpass in der Industrie zwar als ein Zeichen der Hoffnung an. «Dennoch kann noch nicht von einer tiefgreifenden Entspannung gesprochen werden», sagt Ifo-Experte Klaus Wohlrabe. «Viele Aufträge können noch immer nicht abgearbeitet werden.» Und in der besonders betroffenen Automobilindustrie haben die Engpässe laut der Ifo-Umfrage sogar noch zugenommen: Klagten sich im Oktober 74,9 Prozent der befragten Unternehmen der Branche über Materialknappheit, so waren es im November 83,2 Prozent.

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