- Kultur
- Peter Handke
Erkenne dich? Überrasch dich
Dem Dichter Peter Handke zum 80.
Die Welt, das ist Urschmerz und: dessen Wiederkehr, zu allen Zeiten. Dies bleibt so etwas wie eine Erstwahrheit. Aber halten wir uns an lebensspendende Zweitwahrheiten: die Zwischenräume, das Anschauliche. Lassen wir uns auf das Vergängliche ein, als wäre es das Äußerste. Vergänglichkeit vergoldet sich in dem, was ich an Zerbrechlichem wahrnehme, als sei es ein Fest des Feuerfesten.
»Die Stunde der wahren Empfindung.« Das ist das Abenteuer Peter Handke. Er hat »Versuche« über die Jukebox, die Müdigkeit und den geglückten Tag geschrieben, er hat ein Stück erfunden, in dem zahllose Personen in winzigen Szenen ohne Text ein seltsames Begegnungs- und Einsamkeitsuniversum entwerfen: »Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten.« Schönste Stunde. Denn zwei Menschen etwa, die aneinander vorbeigehen, einander blickstreifend – ist das nicht lebendiger als alles, was sehr direkt aufeinander trifft?
Wer eine klare, gar spannende, auf Personen aufgeteilte Geschichte mit Anfang und Ende lesen will, kann kein Handke-Leser werden. Den Anfang machen stets Orte, Großstädte oder stille Gegenden, da beginnt ein Weg, eine Reise, eine Um-Schau, ein Tasten. Jeder Schritt und Satz ist ein Aufschieben von Handlung, eine Vermeidung von Dramatik, und weil Handke besonders die Vororte liebt, ist seine Prosa leidenschaftliche Vorgeschichte, ist vorbeigängerisch, nicht frontal. Man soll ihn in Ruhe lassen mit Inszenierungen, die mitten hineingehen, hineingreifen. »Es ist schön, so knapp vorbeizugehen.«
Nie schafft der Autor dramaturgische Verwicklungen oder porträtiert er Charaktere (»ich kann nicht realistisch schreiben, es ist Scheiße«). Bloß keine Abgeschlossenheit; nur keine Unanfechtbarkeit des Formulierten. Naturbild und Menschenspur: »Es hatte um nichts zu gehen als um das Erzählen von Vorgängen, friedlichen, die schon das Ganze und insgesamt am Ende vielleicht das Ereignis wären … Spielarten, Nuancen, noch und noch. Und trotzdem sollte das alles im Zusammenhang erscheinen und vibrieren, wie nur je eine Schatzsuchergeschichte.«
Handke wird am 6. Dezember 1942 im Kärntner Griffen geboren. Der Ort mit dem »See der Kindheit«, wo der geliebte Großvater Schilf schnitt. Peter, der junge Schul- und Internats-Einzelgänger: »Als es in Mode kam, sich mit Kreide Hakenkreuze auf die Handfläche zu zeichnen und damit Nichtsahnende auf die Schulter zu klopfen, war ich meist der Beklopfte.« Aber: »Weil ich in der griechischen Grammatik allen überlegen war, fühlte ich mich mächtiger als viele.« Der geliebten Mutter Maria wird der Jurastudent Handke wunderbare Briefe senden, nach ihrem Freitod 1971 schreibt er sie in eines seiner stärksten Bücher hinein, »Wunschloses Unglück«. Die Mutter erfährt 1964 in einem Brief: »Ich bin schon ziemlich zäh … und außerdem werde ich sicher weltberühmt«.
Aus dem Jauntal ins katholische Knabeninternat, aus der Schulstadt Klagenfurt in die Unistadt Graz. Und 1966 nach Princeton, wohin die Gruppe 47 das junge Talent einlädt. Handke redet dort fast stammelnd, vorm Olymp! gegen die »Beschreibungsimpotenz« der neuen westdeutschen Literatur. Empörung über eine scheue Reizfigur. Nur Hans Mayer nimmt diesen Jüngling in Schutz.
Handke wird Rebellionskult. Sonnenbrille, lange Haare, Lesungen mit Popmusik – er kreiert das provokative literarische Happening. Mit seinem ersten Theaterstück »Publikumsbeschimpfung« und seinem ersten Roman »Die Hornissen« wird er berühmt. A star is born, er lebt fortan zwischen schriller Szene und Versenkung, zwischen aufmischender Zugehörigkeit und stolzer Abkehr. Liest man diesen Dichter, erfährt man einen Menschen, der ist vergesellschaftet gleichsam mit Blättern, Steinen, Schneeluft; er steht in seinem umwaldeten Domizil bei Paris im anmutigen Widerstreit mit Welten, die nur immer von Falschheit zu Falschheit wechseln.
Die Welt? Wo einst der Durchdrungene etwas galt, besetzen Eindringlinge die Plätze. Das Schauen hat nur noch dort Geltung, wo es verspricht, Über- und Durchblick zu bieten. Sprach der Romantiker noch heißwünschend vom Offenen, so spricht die Moderne kalt von Entschlüsselung oder Enthüllung. Überall Spötter, die nur Unflat stapeln, Ironiker, die nie Jean Paul lasen. Alle stehen unter Strom, der aber kaum Erleuchtung bringt, sondern uns zu Armleuchtern eines fruchtlosen Diskurstheaters macht. Da ist es durchaus ein Ideal: »Eine Welt ohne Gewolltheit oder gar eine Idee.« Sofort hast du, weiter lesend, ein nicht zu sättigendes Bedürfnis nach Bäumen, in deren Kosmos man nur immer eintreten will wie in eine Kirche. Eine Kirche, in der unser Kramen und Kraxeln und Kümmern und Kungeln und Kriegführen und Kaspern fürs Wohl der Welt und fürs eigene Wohl plötzlich absolut lachhaft wird.
»Die Geschichte des Bleistifts«, »Das Gewicht der Welt«, »Phantasien der Wiederholung«, »Am Felsfenster morgens« sowie »Gestern unterwegs« und »Vor der Baumschattenwand nachts«: ein Skizzen- und Notizenwerk, das sich einreiht in die Phalanx der großen Augenblicks-Romane – von Friedrich Hebbel bis Botho Strauß. Danksagungen an die Dauer, die mit dem Lidschlag liiert ist. Solange man noch unglücklich sein kann, kann man doch auch noch glücklich sein. Glücklichsein ist doch schon nahe, so lese ich diese Miniaturen, wenn man nicht dauernd denkt: Hätte ich doch, als ich lebte, gelebt. »Nicht: Erkenne dich selbst! sondern: Überrasche dich selbst!«
Handke, ein Botenstoff aus Zartheit – und Zorn. Seine Texte gegen den Nato-Überfall auf Jugoslawien, gegen das landläufige Serbien-Feindbild gaben einen Dichter zum feuilletonistischen Abschuss frei; ein deutsches Ekel-Kapitel, überschattend noch die Nobelpreis-Ehrung 2019. Diese Bücher sind der Friedenstraum eines Menschen, der alles andere als ein »Protagonist im Gesellschaftsleben« sein möchte. Dem aber graut vor einer politischen Realität der festgelegten Zeitungssprechblasen. Handkes Plädoyer für serbische Würde und slowenisch grundierte Erinnerung sind nach wie vor als Beispiel zu lesen – gegen jedwede Täter-Opfer-Einseitigkeit, gegen eine westliche Arroganz der Deutungs- und Reglementierungshoheit.
So ist die allgemeine Lage: Die Gedanken springen, die Bilder flackern, die Szenen huschen, die Zusammenhänge gehen enttäuscht auseinander, die Erzählungen leiden unter Atemnot, die Biografien splittern. Gegen solches trübe Denken hilft, was keine Vorherrschaft assoziiert. »Etwas, um als wahr zu erscheinen – kann doch nicht schön genug sein?« Heute wird der Begründer einer ganz eigenen Erkundung von Sprache 80 Jahre alt.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.