- Politik
- Ein Jahr Ampelkoalition
Fortschritt verschrottet
Die Ampelparteien entsorgen ihre verkündeten Ziele eilig auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz
Mit Angela Merkel war es schon so ähnlich gewesen. Und auch nach der Wahl von Olaf Scholz zum Bundeskanzler hatte man das Gefühl, dass es hätte schlimmer kommen können. Nun allerdings verdichtet sich die Ahnung: Diesmal kommt es schlimmer. Zwölf Monate genau ist es her, dass die Minister der heutigen Regierung ihren Amtseid sprachen. Die erste Ampelkoalition auf Bundesebene ist vom selbsterklärten »Fortschrittsbündnis« zur Regierung im Krisenmodus geworden. Mit der Bewältigung der Inflation, Energiepreisexplosion und Folgen des Krieges in der Ukraine scheint sie nicht nur ausgelastet zu sein, sondern ihre Bestimmung zu finden.
Wenn die Bewertung von Regierungen daran abzulesen wäre, welche Geldsummen sie bewegen, dann wäre diese eine gute Regierung. Natürlich lobt auch Scholz in seiner Videobotschaft die Bilanz des ersten Jahres. Es sind gewaltige Beträge, die die Koalition in Bewegung gesetzt hat, etwa die Entlastungsprogramme zur Abfederung der Energiekosten, zunächst 100 Milliarden zur Anhebung der Entfernungspauschale für Arbeitnehmer, des Grundfreibetrags und des Arbeitnehmerpauschbetrags, zur Zahlung eines zusätzlichen Kinderbonus und einer Energiepauschale in Höhe von 300 Euro. 200 Milliarden sind vorgesehen in den kommenden zwei Jahren – zur Deckelung der Strom-, Gas und Fernwärmepreise. Dazu kommen weitere Geldbewegungen, auch wenn sie nicht aus dem Staatssäckel zu zahlen sind: die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro zum Beispiel. Und dann ist da noch das Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro.
Viel Entschlossenheit kann man der Koalition aus SPD, Grünen und FDP also bescheinigen, monetär gesehen. Für Scholz ist das der Beweis, dass seine Regierung Sorge trägt dafür, dass Wirtschaft, Bürger und das Land »gemeinsam gut durch diese Krise« kommen. Das erste Jahr sei vom Krieg Russlands gegen die Ukraine geprägt gewesen, konstatierte der Kanzler in seinem Podcast. Das ist wohl wahr, auch wenn Inflation und Energiekrise nur zu gern diesem Krieg und damit allein Russland in die Schuhe geschoben werden, obwohl sie schon vor dem Krieg anrollten, wenngleich sie von diesem potenziert worden sind.
Die Krise hat der rot-gelb-grünen Koalition einen Strich durch die schöne Rechnung gemacht, die sie auf den 140 Seiten ihres Regierungsprogramms entworfen hatte: die innere Einheit »sozial und wirtschaftlich zu vollenden«, die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, die soziale Marktwirtschaft als eine sozial-ökologische Marktwirtschaft neu zu begründen, kurzum: »mehr Fortschritt zu wagen«.
Der Fortschritt wurde von der Zeitenwende schrill übertönt, die Scholz drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ausrief. Seitdem ist alles anders. Nicht weil es nicht vorher schon aggressiven Nationalismus gegeben hätte und Kriegsschauplätze, auf denen er sich austobte, sondern weil Deutschland nun mit überraschender Entschlossenheit den Aggressor bekämpft, praktisch Kriegspartei geworden ist, was das Ausmaß der ergriffenen Maßnahmen wie auch der Folgen und Risiken angeht, die von der Bevölkerung und auch von der Wirtschaft in Deutschland zu tragen sind. Der Krieg wurde von den USA, von Nato und EU zum Lackmustest der eigenen Geschlossenheit erklärt, und Deutschland ist kräftig um einen Platz ganz vorn in der antirussischen Front bemüht.
Sogar für den Zusammenhalt der Koalition wirkt der Krieg, nun ja, nicht wie eine Badekur, aber als Kitt. Denn die sehr unterschiedlichen Partner aus SPD, Grünen und FDP haben alle Mühe, die Kratzer auf dem Bild der ungetrübten Harmonie zu übertünchen. Im Streit um die Verlängerung der AKW-Laufzeiten musste Bundeskanzler Scholz gar ein Machtwort sprechen. Richtlinienkompetenz nennt man das, und manchmal wünschte man, dass auch Stubenarrest in diese Kompetenz aufgenommen würde.
Namentlich die Grünen zeigen, welches Potenzial in ihnen steckt, hehre moralische Ziele zur Rettung der Welt durch ebenso hehre Glaubenssätze einer vermeintlich alternativlosen Realpolitik zu ersetzen. Rigoros werden nun der Kampf gegen den Klimawandel, die Interessen der Wirtschaft und sowieso die Interessen der sozial Schwachen zu Variablen einer Gleichung, deren unverrückbare Konstante der angestrebte Sieg über Russland ist. Ein Grüner, Wirtschaftsminister Robert Habeck, hatte auch die im August vom Bundeskabinett bereits beschlossene Gasumlage erfunden, mit der die Verbraucher zur Kasse gebeten werden sollten. Am Ende einer wochenlangen Debatte ging sie zum Glück in einem »Doppelwumms« unter, der die Energiekosten nun auf Staatskosten begrenzen soll.
Zur guten Jahresbilanz dieser Regierung zählt Scholz auch die Förderung der erneuerbaren Energien, die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro und die Einführung des Bürgergeldes, auch wenn die Menschen, um die es dabei geht, damit eher abgespeist werden als aus ihrer bedrängten Lage befreit. Wie halbherzig die sozialen Ambitionen der Bundesregierung sind, zeigt sich im Pflegebonus, der nicht alle Pflegekräfte erreicht, und im Pflegegesetz, das den Notstand in den Pflegeheimen und die finanzielle Not vieler betroffener Familien nicht beenden wird, wie die Fachleute beklagen. Einen Beitrag zum Fortschritt kann man der Koalition allenfalls in der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zugestehen, nachdem das »Werbeverbot« für Ärzte abgeschafft wurde.
Die verkündeten Ziele der Energiewende rücken dagegen in weite Ferne. Eine Art Kriegswirtschaft ist ausgerufen, Unternehmen müssen auf teures und umweltschädlich gefördertes Gas umsteigen und gleichzeitig auf ihre Märkte verzichten und bisherige Zulieferer ersetzen, nicht nur wegen der Sanktionen gegen Russland, sondern weil als Lehre aus überraschend entdeckten wirtschaftlichen Abhängigkeiten nun auch die Beziehungen zu China neu geordnet werden.
Das ist der erst auf den zweiten Blick erkennbare, aber wohl folgenschwerste Teil der einjährigen Ampelbilanz: dass, anders als es im Koalitionsvertrag vereinbart scheint, die eigentliche Bewegung der deutschen Politik, die abrupteste Wende nicht im eigenen Land, sondern außenpolitisch eingeleitet wurde. Der Bundeskanzler kündigte dieser Tage eine neue Sicherheitsstrategie an, die er zur Münchner Sicherheitskonferenz im Februar verkünden will und die die Welt neu nach ihren Bedrohungen sortieren soll – »in erster Linie ausgehend von Russland«.
Deutschland strebt ganz offenkundig eine Führungsrolle in dieser neuen »Sicherheitsarchitektur« an. Die Strategen der SPD sprechen offen aus, dass Russland dabei keinen Platz mehr hat, es sei denn als Feind – ungeachtet der Tatsache, dass eine solche Haltung bereits seit Jahren das Verhältnis des Westens mit Russland vergiftet hat. Im Gerangel um die Führungsrolle in Europa legt sich die Bundesregierung erneut auch mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron an, der in einer künftigen Sicherheitsarchitektur Europas auch die Interessen Moskaus zu berücksichtigen beabsichtigt.
Parallel zu solchen Debatten ersetzt Deutschland billiges Pipeline-Gas aus dem autoritär regierten und kriegführenden Russland durch teures Flüssiggas aus der autoritär regierten Monarchie Katar und liefert Waffen an das kriegführende Saudi-Arabien. Wirtschaftsminister Habeck plant eine Offensive, um die deutsche und die chinesische Wirtschaft zu »entflechten«. Und Außenministerin Annalena Baerbock nötigt in einer Art diplomatischer Krisenmission andere Länder zu prowestlichen Bekenntnissen und versucht Indien, den traditionellen Rivalen Chinas, auf eine »wertebasierte« Außenpolitik einzuschwören. Beinahe nebenher ratifizierte der Bundestag im August das Freihandelsabkommen Ceta, das noch 2017 wegen eines breiten gesellschaftlichen Widerstands nur in Teilen in Kraft treten konnte – ohnmächtig klingt die Klage der Gewerkschaft Verdi, dass der Vertrag unverändert den internationalen Handel über die Interessen der Menschen, den Umweltschutz und die demokratischen Interessen stelle. Es wirkt wie ein trauriges Déjà-vu, wenn Umwelt- und Sozialverbände, Kirchen und Gewerkschaften nun in einer gemeinsamen Stellungnahme die Ampelregierung zu langfristigen Maßnahmen und Investitionen in Klimaschutz und soziale Sicherheit aufrufen, weil diese bisher nur Symptome bekämpfe. Solche Appelle haben sie in anderen Zeiten auch schon an die Regierungen gerichtet – mit dem Unterschied, dass diese zuvor nicht den Fortschritt zu ihrem Markenkern erklärt hatten.
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