- Berlin
- Verkehr
Oh Regiobahn, was hast du mir angetan
Nikolaus-Aktion unzufriedener Fahrgäste im Zug von Berlin nach Kostrzyn
Um 16.38 Uhr fährt in Berlin-Lichtenberg der Zug über Müncheberg nach Kostrzyn nad Odrą ab. Per Lautsprecherdurchsage auf Deutsch und Polnisch begrüßt die Niederbarnimer Eisenbahn (NEB) alle Fahrgäste und wünscht ihnen eine gute Reise. Damit war es von August bis November wegen Baumaßnahmen und anderer Unannehmlichkeiten allerdings Essig. Erst in den vergangenen Wochen besserte sich die Situation spürbar. Das ist für die im September gegründete Bürgerinitiative »Zuverlässiger Nahverkehr MOL« (Märkisch-Oderland) aber kein Grund, ihre Proteste aufzugeben und sich aufzulösen. Sie will weiter für mehr Pünktlichkeit, mehr Sitzplätze und funktionstüchtige Toiletten streiten. »Die Situation war auch vor dem Sommer nicht zufriedenstellend und sie ist es immer noch nicht«, erklärt Friederike Fuchs. Mit ihren Mitstreitern hat sie sich im letzten Wagon verabredet. Dort spricht sie Fahrgäste an, erläutert ihr Anliegen und bittet, sich spontan an einer Aktion zu beteiligen.
Fuchs verteilt passend zum 6. Dezember rote Nikolaus-Mützen aus Papier und die Texte umgedichteter Weihnachtslieder, um sie nachher gemeinsam zu singen. Manche Fahrgäste wollen ihre Ruhe haben, andere lassen sich überreden und wieder andere sind sofort hellauf begeistert. So wird dann zusammen erst »Cicha noc, święta noc!« gesungen (Stille Nacht, heilige Nacht) und dann eine an die Zustände bei dieser Zugverbindung angepasste Version von »Oh Tannenbaum». Darin heißt es: „Oh Regiobahn, oh Regiobahn,/ was hast du mir nur angetan./ Mit dir komm ich nie pünktlich an.« Weiter hinten im Text stehen dann Zeilen wie »Du hast zu wenig Wagen dran«, »Im Sommer bist du viel zu heiß,/ es klopft das Herz, es tropft der Schweiß«, »Im Winter bist du viel zu kalt,/ ich glaube, ich erfriere bald« und »oh Regiobahn, oh Regiobahn,/ du regst mich sehr zum Fluchen an,/ und das nicht nur zur Sommerzeit,/ nein, auch im Winter, wenn es schneit«.
Vier Monate lang gab es Schienenersatzverkehr ab Müncheberg. »Das war die Hölle«, erinnert sich Fuchs und korrigiert sich noch – »die Vorhölle«. Viele Pendler sind auf den Zug angewiesen, um zur Arbeit nach Berlin zu kommen. Normalerweise beträgt die Fahrzeit von Kostrzyn in Polen bis Berlin eine Stunde und 18 Minuten. Mit dem Schienenersatzverkehr waren polnische Kollegen zweieinhalb Stunden unterwegs – wenn alles reibungslos lief. Doch oft ging etwas schief. Manche konnten dann nachts nur noch drei Stunden schlafen, bis sie zur nächsten Schicht schon wieder aufstehen mussten. Zur Regel wurde das für diejenigen, die in Kostrzyn nicht am Ziel sind, sondern von dort noch weiter müssen.
Es sind viele polnische Frauen in dem Zug und etliche polnische Männer. Sie arbeiten in Berlin als Pflegekräfte, Putzfrauen oder Bauarbeiter. Auch an einen Koch erinnert sich Friederike Fuchs aus ihren Gesprächen mit den Betroffenen. Inzwischen fährt der Zug wieder bis Küstrin-Kietz. Doch über die Grenze nach Kostrzyn verkehrt als Schienenersatzverkehr noch immer ein Bus – ein Kleinbus, weil die alte Brücke über die Oder einen großen Bus nicht trägt und die neue Brücke noch nicht fertiggestellt ist. Aber der eine Kleinbus reiche für die Menge der Fahrgäste nicht aus, sie müssten dicht gedrängt stehen oder auf die nächste Tour warten, erzählt Fuchs, die sich das selbst einmal angetan hat, um zu wissen, worüber sie spricht. »Es müssten sieben Kleinbusse sein«, fordert sie.
In Rehfelde steigt am Dienstag der Nikolaus zu. Er ist eine Sie und mit der Bürgerinitiative im Bunde. Der Nikolaus spielt Mundharmonika, droht scherzhaft mit der Rute und will von den Fahrgästen wissen, ob sie auch schön artig waren und was sie sich wünschen. Ganz oben auf der Wunschliste steht da die Pünktlichkeit. Bei zwei Frauen aus Polen kommt diese Antwort wie aus der Pistole geschossen. Sie sprechen ein bisschen Deutsch. Wenn nicht, wäre es kein Problem: Die Bürgerinitiative hat extra eine Übersetzerin mitgebracht. Auf Nachfrage bestätigen die beiden angesprochenen Frauen, ihr Geld würden sie natürlich gern erstattet bekommen für all die Unannehmlichkeiten in den vergangenen Monaten. So waren im September nur 66 Prozent der Züge auf der Strecke pünktlich und im Oktober 61 Prozent. Die Bürgerinitiative erklärt zu ihrer Aktion, sie teilten ihre Wünsche symbolisch dem Nikolaus mit, »weil wir von den Zuständigen wenig zu erwarten haben«.
In der Dezember/Januar-Ausgabe ihres Kundenmagazins erläutert die NEB ohne Umschweife die Gründe für die Ärgernisse. Auf der weitgehend eingleisigen Verbindung mit wenigen Ausweichstellen schaukeln sich geringfügige Verspätungen schnell hoch zu erheblichen. Es habe seit März auf der lange vernachlässigten Schiene neun große Baustellen und viele kleine gegeben. Obendrauf sei der Neubau der Oderbrücke gekommen. Der eingesetzte Zugtyp Pesa Link sei störanfällig. Wenn das Ankoppeln nicht funktioniert, könne nur ein Triebwagen fahren. Den Schienenersatzverkehr zu organisieren, sei nicht einfach, da es an Bussen und Personal mangele. Dann habe es außerdem Schwierigkeiten wegen defekter Schwellen gegeben. Die NEB stelle »alle internen Prozesse auf den Prüfstand, um Verbesserungspotenziale auszuschöpfen«, wird versprochen. Alle elf störanfälligen Züge sollen ertüchtigt werden.
In Seelow-Gusow hat die Bahn am Dienstag lediglich zwei Minuten Verspätung. Da können die Fahrgäste noch froh sein. Der Bus nach Seelow ist noch nicht abgefahren. Die Bürgerinitiative steigt aus und nimmt den Zug in der Gegenrichtung, der pünktlich um 17.36 Uhr eintrifft und fast leer ist. Um diese Zeit will kaum jemand nach Berlin. Doch am Mittwochmorgen gibt es wieder die leidigen Probleme. Erst fährt ein Zug nur mit halber Platzkapazität. Viele Fahrgäste stehen und hocken dicht gedrängt in den Gängen. Der nächste Zug fällt ganz aus. »Wir übertreiben nicht«, kommentiert Fuchs. Es soll schon oft vorgekommen sein, dass die Bahn im Berufsverkehr bei der Ankunft in Rehfelde bereits so voll war, dass die dort auf dem Bahnsteig wartenden Menschen nicht mehr einsteigen konnten. Dabei kommen hinter Rehfelde bis Berlin-Lichtenberg noch die Stationen Herrensee, Strausberg und Berlin-Mahlsdorf.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.