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  • Fußball-WM in Katar

Die Breite des Sports

Körperliche Bewegung steht in Katar für mehr Freiheit, dient jedoch gleichzeitig dem Machterhalt

  • Ronny Blaschke, Doha
  • Lesedauer: 5 Min.
Mit den Asienspielen 2006, hier das Straßenrennen der Radsportlerinnen, bekam der Sport in Katar eine neue Bedeutung, vor allem für Frauen.
Mit den Asienspielen 2006, hier das Straßenrennen der Radsportlerinnen, bekam der Sport in Katar eine neue Bedeutung, vor allem für Frauen.

Fatma Al-Ghanim wirkt nostalgisch, wenn sie an den Dezember 2006 denkt. Damals fanden in der katarischen Hauptstadt Doha die Asienspiele statt, mit fast 10 000 Sportlerinnen und Sportlern aus 45 Nationen. Es war das bis dahin größte Sportereignis im Nahen Osten. Zu jener Zeit war sie noch ein Teenager. »Damals konnten die Menschen erstmals aus der Nähe ein so großes Ereignis verfolgen«, sagt sie. »Eines der wichtigsten Vermächtnisse war, dass viele von ihnen selbst mehr Sport treiben wollten, vor allem Frauen. Und auch die Unterstützung ihrer Familien wuchs.«

Al-Ghanim sitzt in einem Café in West Bay, im Geschäftsviertel von Doha. Ihr Handybildschirm zeigt ein Foto vom American Football. Sie sagt, sie interessiere sich für viele Sportarten, insbesondere in den USA, wo sie länger gelebt hat. Sie hat selbst einige Sportarten ausprobiert. Sie ging schwimmen, joggen, unternahm Fahrradtouren. Seit 2018 kombiniert sie diese Disziplinen im Triathlon. Anfangs als Freizeitbeschäftigung, mittlerweile in Wettbewerben. »Ich wollte mich herausfordern und meine Grenzen austesten.«

Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar geht in ihre finale Phase. Das Turnier wurde vor zwölf Jahren an den Persischen Golf vergeben. Und die Triathletin Al-Ghanim findet, dass man am Beispiel des Sports eine positive Entwicklung erkennen könne. Sie redet nicht von modernen Stadien oder Sponsoren im Profifußball, sondern von körperlicher Bewegung. »In Katar haben viele Menschen eingesehen, dass Sport zu einer gesunden Lebensweise dazugehört.« Botschaften wie diese haben in Katar auch eine politische Dimension. Denn Al-Ghanim stammt aus einem Land, das erst seit 2009 ein Nationalteam der Fußballerinnen hat und erst seit 2012 Frauen zu Olympischen Spielen entsendet. 

Katar wird, ähnlich wie Saudi-Arabien, durch den Wahhabismus geprägt, eine traditionalistische Auslegung des sunnitischen Islam. Noch immer müssen Frauen für etliche Anliegen die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen. Zum Beispiel, wenn sie heiraten, in einem öffentlichen Job arbeiten oder im Ausland studieren wollen. Jahrzehntelang hatte es kaum Räume gegeben, in denen sich Frauen ohne traditionelle Bekleidung körperlich verausgaben konnten.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation leben 17 Prozent der Katarer mit Diabetes und mehr als 70 Prozent mit Übergewicht. Auch Herzleiden und Gefäßkrankheiten werden das Gesundheitssystem langfristig belasten. Die Herrscherfamilie will die Kosten in Grenzen halten – auch mit Breitensport als Prävention. 

Seit 2012 begeht Katar jährlich einen nationalen Sporttag. Der Emir und seine Angehörigen lassen sich beim Laufen oder Tennis filmen. Auch Frauen in Führungspositionen veröffentlichen sportliche Fotos in sozialen Medien. Vor 20 Jahren war das in der patriarchalen Gesellschaft Katars noch undenkbar. »Es entstehen Radwege, Fitnessstudios und Sporthallen«, sagt Al-Ghanim, die hauptberuflich für das Doha Film Institute arbeitet.

Katar hat mittlerweile Hunderte Veranstaltungen im Leistungssport durchgeführt, so auch die Handball-WM 2015. In einigen Hallen von damals ist inzwischen der Breitensport zu Gast: Badminton, Karate oder Bogenschießen. Sportwissenschaftler an der Qatar University entwickeln Fortbildungen für Physiotherapeuten und Lehrer. Denn Sport soll, so die offizielle Botschaft, stärker in Schulen verankert werden. Darüber hinaus werden Ideen in einem sozialen Netzwerk gebündelt. Der Titel: »Generation Amazing«.

All diese Angebote der Regierung richten sich aber vor allem an die rund 300 000 katarischen Staatsbürger. Doch die stellen nur zehn Prozent der Bevölkerung. Fast 60 Prozent der Einwohner stammen aus Indien, Bangladesch, Nepal, Pakistan und Sri Lanka. Sie arbeiten auf dem Bau, in der Gastronomie, als Hausangestellte. In ihrer knappen Freizeit ist ihr Bewegungsradius stark eingeschränkt. In der Regel wird ihnen der Zugang zu Einkaufszentren, Kinos und anderen Freizeiteinrichtungen verwehrt. Die meisten Angebote sind wegen der Kosten ohnehin unerreichbar. 

»An den Wochenenden spielen viele Arbeiter in den Parks Kricket, jede freie Fläche wird genutzt«, sagt Susan Dun von der Northwestern-University in Doha. Nach ihrer Einschätzung sind für etliche Arbeiter auf den WM-Baustellen neue Freizeiteinrichtungen gebaut worden. »Doch für die große Mehrheit der Arbeitsmigranten, die nichts mit der WM zu tun hat, gibt es nicht ausreichend Sportmöglichkeiten.« Zumal die Unterkünfte meist in der Peripherie von Doha liegen. Dun findet, dass der Sport die Integration der Gastarbeitenden in die Gesellschaft fördern könnte, mit gemeinsamen Stadtläufen oder Fußballspielen. Auch die katarische Profiliga, sagt sie, sollte intensiver auf die Arbeitsmigranten zugehen. Zumal die Vereine durchschnittlich nur wenige Hundert Zuschauer anlocken. Konkrete Konzepte dafür existieren nicht. Und so scheint abermals der Eindruck bestätigt zu werden, dass die Herrscherfamilie nicht wirklich an Integration interessiert ist. Aufgeben möchte Dun jedoch nicht, wenn sie sagt: »Als ich 2008 zum ersten Mal nach Katar kam, gab es kaum Sportaktivitäten für Frauen. Inzwischen haben viele Fitness- und Yogastudios geöffnet. Auch für Sportkleidung und Geräte sind Angebote gewachsen.«

Noch richtet sich der Fokus rund um die WM auf die Menschenrechtsverletzungen. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine steht Katar aber auch als Gasexporteur im Blickpunkt. Der Islamwissenschaftler Sebastian Sons regt in seinem neuen Buch an, dass über eine Energie-Partnerschaft hinaus auch andere Formen der Zusammenarbeit möglich wären, bei erneuerbaren Energien, im Abfallmanagement – oder auch im Breitensport. »Das deutsche Vereins- und Verbandswesen wird in Katar sehr geschätzt«, sagt Sons. Doch er verweist auch auf die politische Bedeutung. An den nationalen Sporttagen präsentiert sich der Emir gern als aktiv, gesundheitsbewusst und gesellig. Ein Bild, das die Identifikation der Einheimischen mit ihrem Staat stärken soll und letztlich dem obersten Ziel untersteht: dem Machterhalt der Herrscherfamilie.

Lesen Sie alle unsere Beiträge zur Fußball-WM in Katar unter: dasnd.de/katar

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