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Deutschland, die Immerhin-keine-Diktatur
Der Staat zieht sich aus der Regulation des Miteinanders zurück. Geltung verlangt nur noch, womit Individuen und Familien Interessen durchsetzen
Immer mehr Grundschulkinder haben mit sprachlichen Barrieren zu kämpfen, wenn sie dem Unterricht folgen sollen. Der Grund: Bei ihnen zu Hause wird wenig oder gar nicht Deutsch gesprochen. Und meist haben ihnen die Mitschüler*innen bereits mehrjährige sozio-emotionale Erfahrungen durch den Kitabesuch voraus. Helfen könnten, ja, müssten obligatorische Förderungen und Tests, gegebenenfalls sogar eine Art Kita-Pflicht. Das empfiehlt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz. Nur: Es gibt nicht genügend Personal, mit dem sich diese Maßnahmen gegen die ethnisch-soziale Schichtenbildung und für die Partizipations- und Bildungsrechte der Kinder umsetzen ließen.
Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Stimmt. An einem schweren Atemwegsinfekt leidende Kinder müssten derzeit eigentlich in spezialisierten Kliniken behandelt werden, und zwar wohnortnah. Nur gibt es nicht genügend Personal und Betten, um das zu gewährleisten. Deren Zahl war zuletzt noch einmal gesunken. Überall, wo man hinsieht, dasselbe Bild: Gesellschaftliche Systeme scheitern zunehmend daran, ihrem Auftrag nachzukommen. Und doch geschieht nichts, um Abhilfe zu schaffen.
Das Phänomen zeigt sich bei derlei handfesten Problemen genau so wie bei kulturellen. In Köln hat etwa der Auftakt zur Karnevalssaison am 11. November seit Jahren einen eigenständigen Sog auf Feierwütige entwickelt, die es dort bei günstigem Alkohol aus Büdchen richtig krachen lassen. Kölsche Kneipen indes, die noch Karnevalsprogramm machen, geben auf: Ihre Gäste kommen nicht durch den dichten Mob aus Besoffenen, der in den umliegenden Bereichen nicht nur den Straßenverkehr zum Erliegen bringt, sondern in diesem Jahr auch wieder wegen fröhlicher Schienenquerungen einen Notstopp bei den Verkehrsbetrieben erzwang.
Entsprechend verlangen Akteur*innen städtischer Kultur, Kneipen und Karnevalsinstitutionen immer wieder von der Kommune, sie möge in die Ausrichtung des Session-Auftaktes einsteigen, Regeln im öffentlichen Raum durchsetzen und den Besucher*innenanstrom durch ein eigenes Programm strukturieren. Doch die Stadt weigert sich händeringend dagegen, als Veranstalterin einer bislang informellen Feier aufzutreten. Lieber lässt sie die Karnevalskultur im Meer randalierender Betrunkener untergehen, als dem Prinzip Eigenverantwortung eine staatliche Regulierung entgegenzusetzen. Nun bin ich kein*e Freund*in des Kölner Karnevals. Aber die, die es sind, sollte der immer weiter um sich greifende Rückzug des Staates brennend interessieren.
Denn in absehbarer Zeit werden die alternden Karnevalist*innen in ein Pflegesystem eintreten, das sehenden Auges in einen immer schärfer werdenden Personalmangel hineinläuft. Längst ist klar, wie viele neue Altenheime eigentlich jedes Jahr entstehen müssten. Und immer weniger Menschen – statt deutlich mehr! – wollen noch als Kranken-, Kinder- und Altenpfleger*innen arbeiten. Der Staat müsste im Gesundheitssystem Lohnerhöhungen, Arbeitszeitbegrenzungen und Personaluntergrenzen finanzieren, um gegenzusteuern. Doch all das geschieht nicht. Gleichzeitig überträgt sich die Frage, was wie (halb-)öffentlich gesagt werden darf, in den Verantwortungsbereich globaler Unternehmen wie Facebook und Twitter. Demokratische Mitbestimmung? Fehlanzeige.
Wie wunderbar passt dazu das mit der Pandemie aufgekommene Phänomen, dass in Geschäften, öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln Verhaltensregeln aushängen, deren Einhaltung niemand mehr erwartet? Gerechtfertigt wird die kollektive Boykotthaltung mit dem Hinweis darauf, dass wir ja immerhin keine Diktatur seien. So lernen aber auch immer mehr Menschen, dass sich der Staat als Bühne der Aushandlung des Miteinanders verabschiedet hat. Nur was der individuellen Nutzenmaximierung dient, wird dann zur wirklich verbindlichen Regel – durch Rationalisierung der eigenen Arbeitskraft und Markttätigkeit. Wenn man es denn, über jeden Diktaturverdacht erhaben, in der Herkunftsfamilie gelernt hat.
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