Stillstand zu Weihnachten

In diesem Dezember streiken so viele Briten wie seit Jahrzehnten nicht mehr

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 5 Min.
Vergangene Woche streikte in London die Feuerwehr.
Vergangene Woche streikte in London die Feuerwehr.

»Ich habe mich nicht für diesen Job ausbilden lassen, nur um mitanzusehen, wie die Leute sterben«, sagte ein Ambulanzfahrer namens Matt kürzlich dem britischen Radiosender LBC. In acht Minuten zeichnete er ein Bild eines Notfalldiensts am Rand des Abgrunds. In der Woche zuvor seien in seinem Zuständigkeitsgebiet, das eine Million Menschen abdeckt, nur drei Ambulanzen im Dienst gewesen – und er der einzige voll ausgebildete Rettungssanitäter. Oft habe der Notfalldienst überhaupt keine Kapazität, rechtzeitig zu den Patienten zu gelangen.

Diese prekäre Situation ist ein Grund für den ersten Streik der Rettungssanitäter seit über 30 Jahren. Am 21. Dezember werden rund 25 000 Sanitäter in ganz England die Arbeit niederlegen. Sie fordern eine satte Lohnerhöhung und mehr Personal – der Stress und die Arbeitsbedingungen führen dazu, dass unzählige Sanitäter den Job aufgeben oder sich regelmäßig krankschreiben lassen. »Die Rettungssanitäter sind auf ihren Knien«, sagte Rachel Harrison von der Gewerkschaft GMB. »Sie haben zwölf Jahre Lohnkürzungen hinter sich, sie haben in der vordersten Reihe gegen die Pandemie gekämpft und jetzt stehen sie vor der schlimmsten Krise der Lebenshaltungskosten seit einer Generation.«

Die Rettungssanitäter sind bei Weitem nicht die einzigen, die inmitten dieser Krise der horrenden Inflation und explodierenden Strompreise für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen kämpfen. In diesem Dezember bäumt sich die Streikwelle, die seit dem Sommer durch Großbritannien rollt, erneut zu einem Höchststand auf. Hunderttausende Lohnabhängige werden dafür sorgen, dass das öffentliche Leben in der Vorweihnachtszeit und über die Feiertage stillsteht oder zumindest nur stockend vorangeht.

Gestreikt wird unter anderem bei den Postbeamten, Fahrprüfern, Busfahrern in London, Gepäckabfertigern in Heathrow, Grenzbeamten an mehreren Flughäfen und erneut bei den Bahnarbeitern. Zum ersten Mal überhaupt werden auch die Krankenpfleger vom Royal College of Nursing streiken. Bis zu einer Million Lohnabhängige treten Schätzungen zufolge in den Ausstand, es dürfte der größte Streikmonat seit 1989 werden. An Verkehrsknotenpunkten werden chaotische Tage erwartet, viele Fluglinien haben bereits gewarnt, dass manche Flüge ganz gestrichen werden könnten. Die Regierung lässt unterdessen Soldaten als Streikbrecher ausbilden. Sie sollen etwa an Flughäfen zum Einsatz kommen und die Grenzbeamten ersetzen.

Erneut sind es die Bahnarbeiter der Gewerkschaft RMT, die am meisten Wirbel erzeugen. Ab Dienstag werden rund 40 000 Angestellte von 14 privaten Bahnbetreiberfirmen und dem staatlichen Schienenbetreiber Network Rail zwei Tage lang die Arbeit niederlegen, darunter Schaffner, Ingenieure, Reinigungspersonal und Stellwerker. Es ist die erste von drei Streikperioden im Dezember, im Januar werden weitere folgen.

Der Arbeitskampf auf den Schienen läuft seit einem halben Jahr; trotz über einem Dutzend Streiks scheint keine Einigung mit den Arbeitgebern in Sicht. Die RMT will eine Lohnerhöhung, die Schritt hält mit der Inflation von elf Prozent, zudem eine Garantie, dass keine Stellen abgebaut oder die Arbeitsbedingungen verschlechtert werden. Im November sagte die RMT geplante Streiks ab, um »intensive Gespräche« mit den Arbeitgebern zu führen. Diese platzten jedoch. Das Angebot einer Lohnerhöhung von acht Prozent über zwei Jahre sei völlig unzureichend, sagte die RMT – und zog gleich Konsequenzen: Sie kündigte einen zusätzlichen Streik über die Weihnachtstage an. Mick Lynch, der wortgewandte RMT-Vorsitzende, der mit seinen schroffen Abkanzelungen von Fernseh- und Radiomoderatoren so eine Art Star geworden ist, fordert die Regierung auf, sich für eine Einigung einzusetzen – nur der Transportminister könne den Disput zu Ende bringen.

Aber die Regierung zeigt sich hart. Die RMT nehme »die Öffentlichkeit in Geiselhaft«, sagte ein Regierungsminister letzte Woche und forderte die Gewerkschaft auf, den Streik abzublasen. Noch heftiger werden die rund 100 000 Pfleger attackiert, die am 15. und am 20. Dezember die Arbeit niederlegen werden. Kabinettsminister Nadhim Zahawi sagte, die Pfleger würden mit ihren Lohnforderungen direkt in Wladimir Putins Hände spielen, indem sie die Inflation anfeuern. Die Generalsekretärin des Royal College of Nursing, Pat Cullen, sagte, die Anschuldigung sei »ein neuer Tiefpunkt« für die Regierung; sie missbrauche »Russlands Krieg in der Ukraine als Rechtfertigung für eine Lohnkürzung für britische Pfleger«.

Dass sich die Regierung auf die Hinterbeine stellt und offenbar auf eine Konfrontation mit den Gewerkschaften abzielt, zeigt sich auch an einem neuen Gesetzesvorhaben: Demnach sollen Streiks im Transportwesen künftig nur erlaubt sein, wenn ein Minimalbetrieb beibehalten wird. Allerdings sind die Streikgesetze in Großbritannien bereits jetzt weit restriktiver als in den meisten europäischen Ländern.

Die Regierung hofft wohl zudem, dass die britische Öffentlichkeit früher oder später die Geduld mit den Gewerkschaften verliert und die harte Haltung der Regierung gutheißt. Das Kalkül scheint jedoch bislang nicht aufzugehen. Wie eine Analyse der »Financial Times« zeigt, haben die streikenden Angestellten seit Juni an öffentlicher Zustimmung gewonnen, zumindest jene im öffentlichen Sektor. In vielen Branchen steht eine deutliche Mehrheit der Briten hinter den Streikenden, etwa den Krankenpflegern.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.