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Ein weißer Rabe

Geist in Entweder-oder-Zeiten: Eine Replik auf Karsten Krampitz’ Kritik an dem Schriftsteller Stephan Hermlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Gelegentlich arrogant, aber nicht selbstgerecht: Stephan Hermlin
Gelegentlich arrogant, aber nicht selbstgerecht: Stephan Hermlin

Der von mir wegen seiner unorthodoxen Art, DDR-Geschichte zu behandeln, geschätzte Karsten Krampitz erinnert an den Lyrik-Abend vor 60 Jahren in der Ost-Berliner Akademie der Künste. Er hätte auch an die von Fritz Cremer initiierte Ausstellung zur »Jungen Kunst« im Jahr zuvor erinnern können. Janusköpfiger Aufbruch hinter der Mauer. Das Kurzzeit-Happening einer jungen Generation, die glaubte, jetzt sei ihre Zeit gekommen. Eine Illusion, wie sich herausstellte. Jetzt wenden wir uns endlich offen unseren eigenen Angelegenheiten zu, auch den hausgemachten Widersprüchen! Dagegen das Wort Otto Gotsches, Ulbrichts schriftstellernden Sekretärs, der zu denen gehörte, die die Mauer anders verstanden: »Jetzt haben wir die Mauer und können jeden an ihr zerquetschen, der gegen uns ist.«

Darum ging es Anfang der 60er Jahre: um Kulturkampf gegen den Stalinismus. Stephan Hermlin gehörte zu denen, die sich ganz auf die Seite der jungen Wilden stellten. Er entdeckte an diesem Lyrik-Abend im Dezember 1962 Wolf Biermann, der mit seiner Gitarre die Szenerie dominierte. Hermlin war fasziniert von Biermann – der es ihm nicht dankte. Die Schutzmauer, die Hermlin später um sich baute, sich unnahbar machte, hatte mit diesen Enttäuschungen zu tun.

Krampitz kennt und schätzt Hermlin als Intellektuellen und Kulturvermittler, fragt dann: »Aber war er auch ein bedeutender Schriftsteller?« Sein Text endet mit einer Frage, die einer Denunziation gleicht, gerade auch weil sie sich sinnverkehrend hinter Platon versteckt: »Wie viel darf ein Schriftsteller lügen?« Sokratisch gesehen (darum allein geht es Platon natürlich), lügen alle, die auf dreiste Weise vorgeben, die Wahrheit zu sprechen. Gehörte Hermlin zu diesen eindimensional Selbstgerechten? Gewiss nicht.

Ich kenne unter den deutschen Autoren kaum jemanden, der skeptischer, zweifelnder und weniger selbstgerecht gewesen wäre als Hermlin (trotz seiner gelegentlichen Arroganz!). Fühmann vielleicht, aber sonst? Für ihn als Denker und Dichter war die Wahrheit oberster Maßstab. Aber was bedeutet hier Wahrheit – das bloß an Fakten und Daten Vorfindliche? Nein, Wahrheit in der Literatur ist etwas, das man schreibend erst erzeugen muss, sonst bräuchte man die Kunst nicht. Sonst genügten ein statistisches Jahrbuch und einige meinungsstarke Leitartikler. Das ungefähr ist der Zustand der Literatur heute – voller Moral, fester Überzeugungen und Misstrauen gegen einen Stil, der zu faszinieren versteht.

Enttäuschend, dass Krampitz die Seiten im großartigen »Abendlicht« zählt, dieser poetischen Überhöhung von Autobiografie und befindet, 140 Seiten seien nicht viel für einen Schriftsteller, den immer noch einige für bedeutend halten. Was sind das für biedermeierliche Maßstäbe? Rilkes epochales Stück Dichtung, das man nicht Roman nennen sollte, »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, zählt kaum 200 Seiten, Paul Valérys bahnbrechender »Monsieur Teste« noch viel weniger. Letzterer beginnt übrigens mit dem Satz: »Dummheit ist nicht meine Stärke.« Das sind die neuen Dichter des 20. Jahrhunderts: zugleich Denker und Dichter – der Typus Essayist, den der junge Georg Lukács als »reinen Typus des Vorläufers« bezeichnet hatte: »Der Essay ist ein Gericht, doch nicht das Urteil ist das Wesentliche und Wertentscheidende an ihm (wie im System), sondern der Prozess des Richtens.«

Die Essays, die Hermlin schrieb, meist über andere Autoren und Künstler, sind selbst Dichtung, die denkt. Kurz vor seinem Tod traf ihn Karl Corinos Machwerk »Außen Marmor, innen Gips. Die Legenden des Stephan Hermlin«, der kampagnenartige Versuch einer Demontage, die ihn als Schwindler und Hochstapler bezeichnete und natürlich als Autor zu entwerten versuchte. Sein Vergehen: Er hatte es gewagt, schreibend Facetten seiner Biografie zu erfinden. Dass er Jude, Kommunist und Emigrant war, gegen die Nazis gekämpft hatte, ist unstrittig; nur in Spanien war er allein in Gedanken gewesen, nicht als Person.

Dichtung und Wahrheit also, von deren höherer Symbiose und niederem Gebrauch bereits Goethe wusste. Hat Hermlin sich damit einen Vorteil verschafft wie andere, die ihren Lebenslauf dreist frisieren? Kaum, er stellte sich damit zu jenen, denen er sich im Geiste verbunden fühlte. Einer Minderheit in Deutschland, muss man sagen.

Woher der Hass, hatte Hermlin gefragt, bevor er starb – und diese Frage ist es wert, ernst genommen zu werden. Es ist der Hass der vielen schwarzen Raben auf den einen weißen, der Mitläufer auf den Alleingeher. Der Nichtleser auf den Autor, der sich gerade in seinen ästhetischen Stilisierungen der Wut der Masse ausliefert: Der da ist anders, der gehört nicht zu uns, ist anmaßend elitär, schlagt ihn!

Das Wissen schwindet – auch dort, wo es notwendig wäre, etwa in den Verlagen. Gerade hat die Französin Sonia Combe über die DDR-Intellektuellen im Ch. Links Verlag ein streitbares Buch herausgebracht: »Loyal um jeden Preis. Linientreue Dissidenten im Sozialismus«. Über deren Thesen wird an anderer Stelle noch zu reden sein. Auf dem Cover findet sich neben den Namen Christa Wolf, Heiner Müller und Franz Fühmann auch der Hermlins. Jedoch mit der Vornamenschreibweise »Stefan«. Das allerdings ist traurig. Was sagt es uns, wenn man nicht einmal mehr auf dem Buchtitel die Namen von bedeutenden Autoren, um die es schließlich gehen soll, richtig zu schreiben vermag? Dass sie kaum jemand mehr liest, wohl vor allem.

Aber man sollte diesen Autor, der sich selbst als Kommunist und »spätbürgerlich« bezeichnete, weil er in der literarischen Moderne lebte, die von Nietzsche geprägt ist, für den er sich einsetzte, unbedingt lesen. Seine »Äußerungen 1944–1982« ersetzen ganze Kulturgeschichten. Jener Esprit, wie die Franzosen den erfindungsreichen Geist nennen, der im starken Ausdruck unerwartete Einsichten hervorbringt, war ihm gegeben. Wie er überhaupt immer als Franzose im Geiste agierte.

Was er über den ungarischen Dichter Endre Ady schrieb, stellte die falsche Kulturpolitik der DDR, die sich auf einen verkürzt verstandenen Georg Lukács berief, vom Kopf auf die Füße: »Nietzsche ist ja nicht nur, wie ein anderer großer Ungar (gemeint ist Georg Lukács – G. D.) behauptete, ein Zerstörer der Vernunft gewesen, sondern gewiss auch einer ihrer Erwecker, ein Ferment des Umsturzes.« Wer zugleich so bildhaft und dialektisch zu formulieren versteht, soll kein »bedeutender Schriftsteller« sein? Immer wieder neben Louis Aragon auch Paul Valéry, an dem er sich bildete. Ein Satz Valérys ließ ihn nicht los: »Mein Vers, sei er gut oder schlecht, drückt immer etwas aus.«

So auch Hermlins Texte, gerade die Miniaturen, in denen sich Lebens- und Leseerfahrung verbinden. Kein Besserwisser gegen andere Besserwisser, sondern ein passionierter Leser, der im schöpferischen Akt des Schreibens etwas erblickt, was auch trennende weltanschauliche Positionen zu überwinden vermag. Geist! In Entweder-oder-Zeiten eine Seelenstärkung ohnegleichen. Man lese seinen Text zu Chateaubriand, in dessen 2000-seitigen »Memoiren von jenseits des Grabes« er sich selbst in den Wirren des 20. Jahrhunderts erblickt. Heine hatte Chateaubriand als »Ritter von der traurigen Gestalt« bezeichnet und hinzugefügt, er sei »der beste Schriftsteller und größte Narr Frankreichs«.

Hermlin weiß um den Preis solcherart Ketzerrolle: »Der größte Teil seiner Familie endet auf dem Schafott.« Und nun das, was Hermlin in seinem Essay aus solch einem Schicksal für die Gegenwart gleichsam herausdestilliert. Ein dialektisches Aroma voller poetischer Unbedingtheit schwebt gleichsam über den Lügen der jeweils Herrschenden. So notiert der alt gewordene Chateaubriand, auf sein Leben zurückblickend: »Nach zweiundfünfzig Jahren errichtet man fünfzehn Bastillen, um jene Freiheit zu unterdrücken, um deretwillen man die erste Bastille zerstörte.« Es geht immer um etwas beim Autor Stephan Hermlin – das kann einem nur gefallen, auch da, wo man Positionen nicht teilt.

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