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Wach und weh
Zum Tod des Dichters Wulf Kirsten
Ein gutes Gedicht bleibt immer bei sich, es wird nicht frontal. Seine Leser sind nicht Vorpreschende, sondern Rückkehrende. Entronnen dem Uferlosen, dem Ausufernden, das uns alltäglich anbellt, anspringt. Lesen ist Ankunft, aber nicht in fertiger Erkenntnis, nicht in wohlfeiler Bedeutung, sondern vielleicht an einem »Satzanfang«, wie der erste Lyrikband Wulf Kirstens hieß. Lesen ist wie Schreiben, ein Ankommen am Ort, wo erfahrbar wird, was das ist, Poesie: »die trauer aller dinge, auch/ wenn sie gar kein gesicht haben,/ aus dem zu lesen wäre, die aber tot/ sind und leben und wie verrückt/ anfangen zu leben, in jeder zeile/ sich forttragen …«
Gedichte machen beseelend untertan, eine andere Existenz pflanzt ihr Banner in unser Bewusstsein. Im Gedicht kommt etwas zu Klang, das uns selber fehlt. Raum etwa. Raum fehlt uns immer. Wulf Kirstens Gedichte sind Raum-Gedichte. »ich — auf der erde bei meißen«, so ein weiterer Buchtitel. Ein Dichter in Landschaft, der sich umsieht, der die Sprache der Dörfler betrachtet, neugierig, staunend, so wie man die Unterseite von Baum- und Busch-Blättern beschaut. Ein Sammler von Sprache, die auf Feldern wächst, an Wegrändern, im Scheunenstaub, »im mittagsschlaf des dorfes«. Die Rede geht in dieser Lyrik von »schneidkluppe« und »schieferzwiebel«, von »schaftheu« und »mühlrechen«. Kein Wunder, dass Kirsten eines Tages Mitarbeiter beim »Wörterbuch der obersächsichen Mundarten« wurde.
Dieser Dichter, beeinflusst von Johannes Bobrowski, Peter Huchel, Theodor Kramer, Jakob von Hoddis, baut regionale Sprache zu faszinierenden Klangbildern; er adelt die Provinz, indem er sie feiert. Nichts angekauft Pathetisches. Nichts von »flügelschlag der Geschichte erdenthoben«. So kam etwas zusammen: das Großeganze im Geringen; das Stoppelige und Straßengrabengraue. Kirsten hat eine Seele für Verschwindendes, Gefährdetes: Kelchrand, Horizontlinie, Hasenfell, Ulmengesträuch, Glockenturm, Kornelkirschengezweig, Ritterstege. Schöne Treue zum provinziell Vertrackten, zum ungelenk Standhaften in jenem modernen Gleichmacherstrom, der Landschaften zu Nutzflächen hinrichtet. In einem Gedicht über Kleist heißt es: »welch ein schmerz, die welt in so ungeheurer ordnung/ zu erblicken!«
Kirsten setzt die Gefrierpunktnähe eines Dezembersonntags in Beziehung zu anderen Kältegraden des modernen Daseins. Er preist Lippenblütler. Er denkt über all das nach, was von der Schwermut am Leben gehalten wird. Er singt eine lohende Hymne aufs »regenperlengefunkel« Ende April. Er schreibt auf Ettersberg-Wanderwegen den alten Wörtern »trübetimpelig« und »bedript« ein kleines Laut(denk)mal.
So lebte der Dichter, wach und weh sinnend, zwischen Stadt und Land, zwischen Natur und Kultur, zwischen Fühlung und Fremdheit. Aus dem sozial niederen Lebensstoff wurde nicht angestrengt und klassenfroh das Neue herausgeschlagen, nein, das sperrige Kleine, das banal Vorhandene ist und bleibt der einzige Stoff für jedwede große Vision. Die am Ende aller Tage immer nur darin bestehen kann, vor sich selbst zu bestehen. Und sich als Dichter nicht der Wahrheit in den Weg zu stellen, die durch den Körper hindurch ins Gedicht will.
Kirsten wird 1934 in Klipphausen bei Meißen geboren. Der Steinmetzsohn ist Handelskaufmann, Buchhalter, Bauarbeiter. Er studiert in Leipzig Pädagogik, arbeitet als Lehrer und Lektor. Lernjahre beim großen Dichter Georg Maurer. Das Gedicht beizeiten als »Ich-Setzung« gegen das »kollektive Bewusstsein« in der »stalinomanen Praxis« der DDR. Des Lyrikers sozio-regionale Genauigkeit ist nie Anbiederung an etwas Volkstümliches gewesen, an den Staat sowieso nie; er selbst sprach von einem »Stillhalteabkommen« mit dem System. Seit Jahrzehnten ein Weimaraner. Er wurde dort im Herbst 1989 Mitbegründer des Neuen Forums.
»Der Bleibaum«, »Stimmenschotter«, »Wettersturz«, »fliehende ansicht«, so heißen die Gedichtbände. Die Verse sind mit den Jahren kunstvoller, strenger geworden, tief im »weichbild meiner dörfer« verwurzelt und zugleich doch »lebensabständig«. Dichter sind der Reichtum des Randes; einmal, in einem »Sinn und Form«-Gespräch, erinnerte Kirsten an eine Bemerkung Paul Klees: Uns trägt kein Volk. Aber: Dichtung trägt. Trägt den, der Lust hat auf »herzwillige Streifzüge«, hin zu lauter Satzanfängen. Und ganz am Ende, also wieder ganz an einem Anfang, ist Dichters Hoffnung auch Lesers Hoffnung: »vielleicht grünt nun wo eine seite/ meiner biographie?« Nun ist Wulf Kirsten, ein großer Dichter und universal denkender Poesie-Herausgeber unserer Zeit, im Alter von 88 Jahren gestorben.
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