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Sympathieträger in der Nische
Die US-Gewerkschaften sind wieder da – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Eine echte Massenbewegung lässt auf sich warten
Chris Smalls sieht nicht so aus, wie sich die meisten US-Amerikaner*innen einen Gewerkschafter vorstellen. Der ehemalige Amazon-Beschäftigte aus New York ist erst Anfang 30 und trägt häufig Streetwear samt Goldkette – doch der stilbewusste Smalls, Vorsitzender der Amazon Labor Union, einer unabhängigen Hausgewerkschaft im Lager JFK8, einem Standort des Onlinehändlers auf Staten Island, wirkt, als habe er schon seit Jahrzehnten nichts anderes getan, als die US-amerikanische Arbeiterklasse in all ihrer Vielfalt zu organisieren.
Im April gelang Smalls und der Amazon Labor Union im Werk JFK8, was viele für unmöglich gehalten hatten. Aus eigener Kraft – ohne externe Unterstützung durch eine etablierte Gewerkschaft – konnten Beschäftigte genügend Unterschriften sammeln, um eine Urabstimmung über die Anerkennung der Amazon Labor Union zu erzwingen. Viel wichtiger: Die Gewerkschaft gewann diese Abstimmung und setzte sich damit zum ersten Mal an einem US-amerikanischen Amazon-Standort durch.
Smalls und seine Genoss*innen hatten sich während der Pandemie das notwendige Vertrauen erarbeitet, indem sie sich für besseren Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz stark gemacht hatten. Smalls betont, er habe irgendwann damit begonnen, die Waffen von Amazon gegen den Konzern selbst zu verwenden. Nachdem er jahrelang bei Beförderungen übergangen worden sei – was er als Folge rassistischer Diskriminierung betrachte –, habe er seine Führungsqualitäten für die Beschäftigten eingebracht. »Ich nutze die Prinzipien, die ich bei Amazon gelernt habe, gegen das Unternehmen«, so Smalls zum sozialistischen US-Magazin »Jacobin«.
In den USA sind Gewerkschaften wieder in aller Munde: Spätestens seit den spektakulären Siegen von Arbeiter*innen bei Abstimmungen über die Anerkennung von Mitarbeitervertretungen bei einzelnen Standorten der Cafékette Starbucks ab Dezember 2021 beginnt sich ihr Bild in der Öffentlichkeit wieder zu wandeln – laut Zahlen des Umfrageinstituts Gallup stehen 71 Prozent der Amerikaner*innen Gewerkschaften inzwischen wieder positiv gegenüber, der höchste Wert seit 1965. Begünstigt wird dies durch das Wiedererstarken der politischen Linken im vergangenen Jahrzehnt, was sich auch in Bewegungen wie »Occupy Wall Street«, »Black Lives Matter« und der Präsidentschaftskampagne von Bernie Sanders niederschlug. Im politischen Diskurs ist wieder häufiger von der Arbeiterklasse statt der »Mittelklasse« die Rede, wenn es um Durchschnittsverdiener*innen geht – Ausdruck eines sich wandelnden Selbstbilds dieser großen Mehrheit.
Wirklich unbeliebt waren die US-Gewerkschaften nie. Den Tiefpunkt ihres Ansehens erreichten sie 2009 inmitten einer weltweiten Finanzkrise und eines rechten Backlash gegen den frisch gewählten Demokraten Barack Obama im Weißen Haus. Doch selbst damals genossen sie bei 48 Prozent der Amerikaner*innen noch ein positives Ansehen. Aber gerade innerhalb der Mittelschicht galten sie über viele Jahre als verstaubte Relikte einer vergangenen Zeit, hoffnungslos rückwärtsgewandt in der Verteidigung ihrer Partikularinteressen. Für Konservative standen sie für die Belange fauler Postbeamt*innen und Lehrer*innen oder überbezahlter Busfahrer*innen, die es sich im öffentlichen Sektor nur gemütlich machten.
Der ehemalige republikanische Gouverneur von Wisconsin, Scott Walker, führte Anfang der 10er Jahre einen regelrechten Kulturkrieg gegen die Gewerkschaften des öffentlichen Diensts, deren Rechte er als neu gewählter Regierungschef des Bundesstaats massiv beschneiden ließ. Der Konflikt endete sowohl in der Besetzung des Abgeordnetenhauses von Wisconsin als auch in einer Volksabstimmung über die Abwahl von Walker, die die Demokraten und damit die Gewerkschaften verloren. Die Mehrheit der Bevölkerung stand nicht mehr an ihrer Seite. Aus der Niederlage gingen sie deutlich geschwächt hervor, was den Demokraten einen effektiven Bündnispartner mit gesellschaftlicher Strahlkraft raubte und den Bundesstaat republikanischer machte – eine Abwärtsspirale schwindender gesellschaftlicher Deutungshoheit.
Die liberale Mittelschicht stand Gewerkschaften bis vor wenigen Jahren oft nicht weniger skeptisch gegenüber als ihre konservativen Nachbarn. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter waren in ihrer Vorstellung oftmals alte, weiße Männer, die in sterbenden Industriezweigen arbeiteten und sich mit Händen und Füßen gegen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel wehrten. Die Organisation von Beschäftigten wurde als Kartell zur Verteidigung illegitimer Privilegien statt als Ausgleich gegenüber der strukturellen Übermacht der Bosse gedeutet. In dieser Sichtweise war man sich in der Oberschicht parteiübergreifend einig. Umso erstaunlicher ist, dass die US-Gewerkschaften gerade so etwas wie eine kleine Renaissance erleben.
In den USA ist die gewerkschaftliche Organisation von Beschäftigten durch den »National Labor Relations Act« von 1935 geregelt – ein wichtiger Bestandteil der New-Deal-Reformen von Präsident Franklin D. Roosevelt. Das Gesetz stärkte die Rechte der Beschäftigten beim Kampf um kollektive Repräsentation deutlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es durch die Republikaner entscheidend aufgeweicht und die juristische Anerkennung als Mitarbeiter*innenvertretung deutlich erschwert. Dennoch bildet das Gesetz bis heute die juristische Basis für den Großteil gewerkschaftlicher Aktivitäten in den USA. Es sieht vor, dass in einzelnen Betrieben zunächst über die Anerkennung einer Gewerkschaft abgestimmt wird, bevor es im zweiten Schritt zu Tarifverhandlungen kommen kann. Damit eine Urabstimmung überhaupt stattfindet, müssen die Unterschriften von 30 Prozent der Beschäftigten zusammenkommen.
Die US-Gesetzgebung zur Gewerkschaftsgründung gibt für diesen Prozess enge Formalien vor. Beaufsichtigt werden Urabstimmungen vom National Labor Relations Board, der landesweiten Tarifbehörde. Diese ist – gerade in Zeiten gestiegenen Interesses an kollektiver Organisation – chronisch unterfinanziert und kann Anträge häufig nicht mehr rechtzeitig bearbeiten. Die Biden-Regierung zeigt nur mäßiges Interesse daran, dies zu verändern. Das Budget wurde auch 2022 im Vergleich zur Trump-Ära nicht erhöht, wie die gewerkschaftsnahe Webseite »Labor Notes« kritisch anmerkt. Wer sich nicht an die gesetzlich vorgesehenen Verfahren hält, ist einer Vielzahl juristischer Risiken ausgesetzt. »Das US-amerikanische Tarifrecht macht den Weg vom Entschluss zur Gewerkschaftsgründung bis zum Abschluss des Verfahrens sehr schwierig«, so die Wirtschaftsjournalistin Charlotte Howard in einem Interview mit der Radiosendung »Marketplace«.
Im Zuge solcher Urabstimmungen wehren sich die Unternehmen in der Regel mit allen erdenklichen Mitteln gegen die Gewerkschaftsgründung. Sogenanntes Union Busting ist weitverbreitet und bedeutet zumeist massive betriebsinterne Propagandakampagnen. Zentral hierbei ist die Darstellung der Gewerkschaft als externer Akteur mit eigener Agenda statt als Vertretung der Beschäftigten. Wie das Magazin »The Nation« berichtet, rief Amazon eigens eine Website samt Social-Media-Kampagne ins Leben, um den Beschäftigten zu verdeutlichen, was sie sich von dem an Mitgliedsbeiträgen für eine potentielle Gewerkschaft gesparten Geld alles kaufen könnten.
Unter diesen Bedingungen konnte die US-Gewerkschaftsbewegung zwar etliche Achtungserfolge erzielen, jedoch noch keinen wirklich messbaren Umschwung. Mit 10,3 Prozent der Beschäftigten fiel der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder 2021 erneut auf einen historischen Tiefstand (siehe Infokasten Seite 15). Die medial gefeierten Erfolge haben bis jetzt kaum messbare Auswirkungen auf den Organisationsgrad, obwohl sich in jüngster Zeit ein Anstieg der gewonnenen Urabstimmungen verzeichnen lässt. Die Zahlen zeichnen das Bild einer Arbeiter*innenbewegung, die sich bestenfalls auf niedrigem Niveau stabilisiert hat und sich für einen möglichen Gegenangriff sammelt – der gestiegene öffentliche Zuspruch schlägt sich aber noch nicht in einer echten Massenbewegung nieder, die in der Lage wäre, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wirklich zu verschieben. »Die US-Gewerkschaftsbewegung ist beliebt, bekannt und schrumpft weiter«, titelte die »New York Times« im Januar.
2021 beteiligten sich in den USA mehr als 82 000 Menschen an Großstreiks mit über 1000 Teilnehmenden, ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr, in dem sich die Pandemie auch durch eine niedrigere Streikaktivität bemerkbar machte. Allerdings ist diese Zahl immer noch weit entfernt von den Streikwellen von 2018 und 2019 (siehe Infokasten). Diese Jahre waren geprägt von großen und politisch extrem erfolgreichen Arbeitskämpfen im Bildungssektor, vor allem in konservativen Bundesstaaten. Die Kampagnen wurden mit dem Slogan »Red for Ed« (»Rot für die Bildung«) national bekannt. Viele der Streikenden trugen rote T-Shirts, um auf den alarmierenden Zustand des Bildungswesens nach Jahren der Sparpolitik aufmerksam zu machen.
Die Streikwelle begann in West Virginia, wo die Basis der Lehrer*innengewerkschaften American Federation of Teachers und National Education Association von ihrer Führung einen Arbeitskampf einforderte, nachdem die Regierung des Bundesstaats Lohnerhöhungen im niedrigen einstelligen Prozentbereich beschlossen hatte. Wie der »Guardian« berichtet, sorgten geplante Veränderungen beim Krankenversicherungsschutz der Lehrer*innen für besonders viel Verärgerung. Unter anderem sollten die Beschäftigten gezwungen werden, die Fitness- und Schrittzählerapp Go365 auf ihrem Smartphone zu installieren und ein ausreichendes Niveau an körperlicher Aktivität nachzuweisen, um Aufschläge auf die ohnehin hohen Zuzahlungen zu vermeiden. Solch gravierende Eingriffe in die Privatsphäre wollten sich die Lehrer*innen nicht gefallen lassen.
Die »Red for Ed«-Kampagnen waren auch deshalb so erfolgreich, weil sie vielerorts von Anfang an ein Augenmerk darauf legten, die Unterstützung der Elternschaft und der lokalen Öffentlichkeit einzuwerben. Nur so konnte vermieden werden, dass die Interessen des Lehrpersonals von der Politik gegen die der Schüler*innen und Eltern ausgespielt wurden. In Arizona – einem zu diesem Zeitpunkt republikanisch regierten Bundesstaat – konnte so erkämpft werden, dass die Schulen durch eine Reichensteuer finanziell besser ausgestattet wurden.
Doch während der Corona-Pandemie wurde diese Allianz auf die Probe gestellt. Vielerorts setzten sich die Lehrer*innengewerkschaften für umfassenden Digitalunterricht ein, um den Gesundheitsschutz ihrer Mitglieder zu gewährleisten. Für viele Eltern bedeutete dies eine enorme Zusatzbelastung im Alltag, Schüler*innen aus ärmeren Haushalten gerieten häufig ins Hintertreffen. Der Umgang mit Corona und insbesondere Schulschließungen wurden von der US-Rechten erfolgreich politisiert, hinzu kamen in der Folge Hetzkampagnen gegen Aufklärungsunterricht, insbesondere über queeres Leben. Die Bildungsgewerkschaften haben dadurch einen deutlich schwereren Stand als noch vor einigen Jahren und konnten an ihre Erfolge kaum anknüpfen.
Doch auch anderswo erlitt die US-Gewerkschaftsbewegung Rückschläge. Eine landesweit aufsehenerregende Kampagne, ein Amazon-Lager in Bessemer, Alabama, gewerkschaftlich zu organisieren, scheiterte im April 2021 mit einer Niederlage bei der Urabstimmung. Die Organizerin Jane McAlevey kritisierte in »The Nation«, dass die Retail, Wholesale and Department Store Union, eine national etablierte Gewerkschaft, bei ihrem Versuch, das Lager in Bessemer zu organisieren, alte Fehler gemacht habe. McAlevey monierte handwerkliche Patzer, wie den Mangel an akkuraten Zahlen über die Gesamtbelegschaft. Zudem sei zu wenig Vertrauen im Betrieb und im sozialen Umfeld der Beschäftigten aufgebaut worden. McAlevey plädiert für einen Ansatz, bei dem natürliche Führungstalente, die im Betrieb respektiert sind – Menschen wie Chris Smalls –, über einen längeren Zeitraum die Unterstützung der Beschäftigten für eine gewerkschaftliche Organisierung einwerben, indem sie sich gemeinsam mit ihren Kollleg*innen für kleinere Verbesserungen einsetzen. Die Ergebnisse am New Yorker Amazon-Standort JFK8 sprechen dafür, dass dieser Weg vielversprechend ist. Um gesamtgesellschaftlich relevanter zu werden und ihre strukturelle Macht besser zu nutzen, sollten die US-Gewerkschaften landesweit vernetzte Kampagnen wie »Enough is Enough« in Großbritannien in Betracht ziehen, so McAlevey in einem Interview mit »Jacobin«.
McAlevey lehnt die etablierten Gewerkschaften nicht pauschal ab, sie selbst arbeitete lange für den nationalen Gewerkschaftsverband AFL-CIO. Doch sie kritisiert sehr wohl ihre handzahme, wenig klassenkämpferische Haltung und die aus ihrer Sicht zu enge Bindung an die Demokratische Partei, in der man als strategischer Partner mit Geringschätzung behandelt werde. Es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass unter den Mitgliedern eine ähnliche Sichtweise um sich greift. Vorstandswahlen bei den United Auto Workers brachten im November Erfolge für das Reformerlager, das auf stärkere Konfrontation setzt. Dass die Beschäftigten der Bahnbranche jüngst ebenfalls gegen ihre Gewerkschaftsführungen rebellierten und Tarifverträge ablehnten, die vom Weißen Haus schließlich ohne ihr Einverständnis durch den US-Kongress gepeitscht wurden, spricht ebenso dafür, dass an der Basis ein Sinneswandel eingesetzt hat.
Die US-Gewerkschaften haben die Sympathie der Öffentlichkeit zurückgewonnen. Doch die juristischen Rahmenbedingungen und eine institutionelle Kultur, die von Jahrzehnten des Rückzugs und der Niederlagen geprägt ist, machen es ihnen schwer, hieraus eine neue Massenbewegung zu formieren. Vielerorts haben sie keinerlei lokale Strukturen mehr und sind im Alltag als Ansprechpartner nicht mehr präsent. Ein Gesetzespaket, das die gewerkschaftliche Organisierung erleichtern soll, der »Protecting the Right to Organize Act«, hängt schon längere Zeit im Senat fest. Präsident Joe Biden unterstützt das Vorhaben verbal – eine echte politische Priorität war es für den selbsternannten »gewerkschaftsfreundlichsten Präsidenten in der Geschichte der USA« jedoch nie.
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