Harmonie war gestern

Seit einem Jahr regiert in Berlin Rot-Grün-Rot – vom viel beschworenen Neuanfang ist nichts mehr zu spüren

  • Rainer Rutz
  • Lesedauer: 7 Min.

Viel war am Anfang von »Neustart« die Rede. Davon, dass es »kein ›Weiter-so‹ geben« wird. Davon, dass man den Koalitionspartnern Erfolge auch gönnen wolle. Ein Jahr ist es her, dass Berlins SPD-Chefin Franziska Giffey durch ein Spalier von Schornsteinfegern die Treppen im Roten Rathaus hinaufgestiegen ist, um im Anschluss die zehn Senatoren des wiederaufgelegten Mitte-links-Bündnisses zu ernennen und mit den genannten Ansprüchen die Amtsgeschäfte aufzunehmen.

Die Neustart-Rhetorik von SPD, Grünen und Linke in den Wochen vor und nach dem 21. Dezember 2021 kam nicht von ungefähr. Zur Erinnerung: Insbesondere im Wahljahr 2021 war das öffentliche Bild der rot-rot-grünen Vorgängerkoalition von Dauerzank geprägt. Wichtige Projekte wie das Mobilitätsgesetz oder die Novelle des Schulgesetzes kamen nur noch als Torso durch, andere blieben ganz auf der Strecke. Im Wahlkampf hatten sich die drei Parteien nichts geschenkt – und erst recht nichts gegönnt.

Umso irritierender wirkte zunächst die neue Eintracht der drei alten Regierungspartner. »Insgesamt wird das nur ein Erfolg, wenn jeder seinen Erfolg haben kann und wir auch gemeinsam für den Erfolg arbeiten«, sagte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey im Januar während einer zweitägigen Senatsklausur im brandenburgischen Nauen. »Ich stimme in das Lob der wirklich guten, konstruktiven Atmosphäre ein«, sagte Linke-Vizesenatschef Klaus Lederer. Und: Mit »Harmonie ist eine Strategie« der Hamburger Band Tocotronic habe man sogar einen »Soundtrack der Senatsklausur« gefunden, sagte Grünen-Vizesenatschefin Bettina Jarasch.

Und heute, ein Jahr nach Amtsantritt? Die Tocotronic-Single dürfte in eine Ecke gefeuert worden sein. Spätestens, nachdem sich das Landesverfassungsgericht im September auf eine Komplettwiederholung der Berlin-Wahlen des Vorjahres vorfestgelegt hatte. Noch vor dem bestätigenden Richterspruch im November ging es rund im rot-grün-roten Haus.

Der gegen Grüne und Linke gerichtete und von der Opposition beklatschte öffentliche Wutausbruch von Innensenatorin Iris Spranger (SPD) in der Diskussion um die Polizeistudie, das alle Linke- und Grünen-Bedenken ignorierende Agieren von Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt (parteilos, für SPD) in der Debatte um die Bebauung des Molkenmarkts in Mitte, das wochenlange Gezerre von Grünen und SPD in der Frage der Zusammenlegung beziehungsweise Nichtzusammenlegung des Volksentscheids »Berlin 2030 klimaneutral« mit der Wiederholungswahl: Die Beispiele für eine alles andere als »wirklich gute, konstruktive Atmosphäre« ließen sich fortführen.

SPD-Landes- und Fraktionschef Raed Saleh sagt, dass er dazu eigentlich nichts sagen will. Soviel dann aber doch: »Unsere Aufgabe ist es, unsere Arbeit zu machen, und das machen wir Sozialdemokraten gut. Wir können uns jetzt nicht im Klein-Klein bekriegen.« Natürlich lässt er es sich im Gespräch mit »nd« nicht nehmen, eine Wahlempfehlung für seine Partei zu geben. Kommando Optimismus: »Die Berlinerinnen und Berliner sind klug und werden am Ende bewerten, wie die Parteien ihre Arbeit machen und wer die Menschen gut durch die Krise bringt. Nehmen sie die von uns geforderte dauerhafte Verlängerung des 29-Euro-Tickets. Das entscheidet doch nicht Bettina Jarasch, das entscheiden am 12. Februar die Berlinerinnen und Berliner.«

Das 29-Euro-Ticket, noch so ein Minenfeld. Tatsächlich ist das Berliner Wahl-Rennen komplett offen. Die SPD kommt je nach Umfrage aktuell auf 18 bis 20 Prozent, die Grünen auf 20 bis 22 Prozent, die CDU auf 21 bis 25 Prozent, nur Die Linke liegt abgeschlagen dahinter bei 11 bis 13 Prozent. Auch im vergangenen Jahr rangierte die SPD lange auf Platz 3, am Ende lag sie doch wieder knapp vorn. Darauf baut auch Saleh.

Seit Wochen halten sich dabei eifrig die Gerüchte, Grüne und CDU würden bereits miteinander anbändeln, um nach der Wiederholungswahl alsbald ein Bündnis einzugehen. Dass CDU-Landes- und Fraktionschef Kai Wegner und Grünen-Fraktionschef Werner Graf regelmäßig Kaffeetrinken gehen, befeuert die Spekulationen ebenso wie der Umstand, dass beide Parteien bei jeder Gelegenheit zum großen Halali auf die SPD blasen.

Im Interview mit der »Berliner Morgenpost« sagte Graf jetzt, dass bei der Mobilitätspolitik zwar Welten zwischen den Grünen und der CDU liegen. Zugleich ließ er wissen: »Wenn ich höre, was Herr Wegner zur Verwaltungsreform sagt, gibt es durchaus Schnittmengen. Die CDU scheint es ernst damit zu meinen. Bei der SPD habe ich da so meine Zweifel.« Wie er überhaupt kaum ein gutes Haar an den Sozialdemokraten ließ.

Auch Die Linke zeigt sich unzufrieden mit der Politik der SPD, hat aber bisweilen auch ihre liebe Not mit den Grünen. Beim jüngsten Wahlkampfauftakt hatte sich die Partei trotzdem erkennbar stärker auf die Sozialdemokraten eingeschossen, nicht zuletzt auf den ehemaligen Innen- und heutigen Bausenator Andreas Geisel konzentriert, der auch bei der Linken als politischer Hauptverantwortlicher für die Chaos-Wahl im September 2021 gilt.

Tobias Schulze, Vize-Landeschef der Linken, sagt zu »nd«: »Es ist allen bewusst, dass wir uns aktuell in einem Spannungsfeld befinden zwischen Sacharbeit und Wahlkampf. Aber der Hang zur Profilierung ist bei einigen in der Koalition doch unübersehbar, und das blockiert wichtige Projekte, wie wir jetzt beim Transparenzgesetz gesehen haben.«

Das Gesetz zielt auf die Schaffung eines Transparenzportals, auf dem Gutachten und andere Akten der Berliner Verwaltung hochgeladen werden und dann öffentlich einsehbar sein sollen. Ein rot-grün-roter Entwurf war im Grunde in Sack und Tüten. Dennoch wurde eine entsprechende Anhörung im Digitalausschuss des Abgeordnetenhauses vor einer Woche kurzfristig abgesagt, auf Betreiben der SPD, wie es heißt. Wissenschafts- und Digitalisierungsexperte Schulze sagt: »Wahlkampf in dieser Form tut der politischen Produktivität nicht unbedingt gut.«

Die Linke selbst sieht Schulze beim wahlkampftypischen Alle-gegen-Alle in der fast schon »komfortablen Situation«, nicht jede koalitionsinterne Rauferei mitmachen zu müssen: »Wir haben den Vorteil, dass wir uns nicht um Platz 1 bewerben, und können deshalb als funktionierendes Team unsere Inhalte in den Vordergrund rücken.«

Und die Gerüchte um ein Zusammengehen von Grünen und CDU? »Alle streuen alle möglichen Gerüchte«, sagt Schulze. Auf der anderen Seite heiße es ja es auch, die SPD würde mit einer sogenannten Deutschlandkoalition mit CDU und FDP liebäugeln. »Ehrlich gesagt, wenn ich mir anschaue, mit welchen Themen CDU und FDP Wahlkampf machen, dann würde es mich sehr wundern – und ich kann davor auch nur warnen –, wenn nach der Wahl eine dieser Parteien in Regierungsverantwortung kommt. Deren Ziele sind nicht Konsens in dieser Stadt.«

Auch Vasili Franco, der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, winkt ab bei der Frage nach der grün-schwarzen Kaffeetrink-Connection. »Ich habe noch nie inhaltliche Überschneidungen zur CDU gesehen, die eine Koalition rechtfertigen. Und wenn Kaffeetrinken schon so große Ängste auslöst: Ich habe da ganz andere Bedenken«, sagt Franco zu »nd«. So sehe er vor allem »eine SPD-Spitze, die näher an der CDU ist als an einem progressiven Bündnis mit Grünen und Linken«.

Was die derzeitige Stimmungslage betrifft, könne man den Ball trotzdem auch etwas flacher halten. »Wie in jeder Koalition gibt es auch bei uns immer wieder Licht und Schatten. Und in Wahlkampf-Zeiten gönnt keiner dem anderen die Butter auf dem Brot«, sagt Franco. In Jubel bricht der Parteilinke nach zwölf Monaten Franziska Giffey aber auch nicht aus. »Worin ich nach den vorherigen fünf Jahren Rot-Rot-Grün wirklich Hoffnung gesetzt hatte, ist, dass jetzt ein neuer Stil reinkommt, das heißt: mehr Kooperation, mehr Miteinander. In meinem Bereich, der Innenpolitik, hat das nur mäßig geklappt.«

Mit Blick auf die Zeit nach der Wahl sagt Franco daher: »Es gibt in etlichen Bereichen Verbesserungspotenzial. Wenn man Verantwortung für die Stadt übernimmt, dann reichen nicht nur Ankündigungen. Man muss den selbst gestellten Ansprüchen gerecht werden. Ich hoffe daher, dass es bei der Wahl grünes Licht gibt für Grün-Rot-Rot.«

Auch Linke-Politiker Schulze setzt klar auf eine Fortführung der Zusammenarbeit mit SPD und Grünen. »Wir wollen nicht in die Opposition gehen.« Die Frage sei, wie viel inhaltliche Nachjustierung nach der Wahl nötig werde. »Unser Ansinnen geht dahin, dass wir relativ schnell wieder in die Arbeit einsteigen. Jede verlorene Zeit, ob jetzt vor oder dann nach der Wahl, ist bitter für Berlin.«

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