- Wirtschaft und Umwelt
- Pipeline-Sprengung
Es geht ums Staatswohl
Zum Thema Nord-Stream-Anschlag ist Stillschweigen vereinbart
Am 26. September wurden vor der dänischen Ostsee-Insel Bornholm und in der benachbarten schwedischen Wirtschaftszone vier Lecks in die Gas-Pipelines des Nord-Stream-Konsortiums gesprengt. Am 10. Oktober setzte der Generalbundesanwalt (GBA) seine Spionageabteilung auf den Fall an. Die schickte die Bundespolizei aus, die sich bei ihren Vorort-Recherchen auf die Kompetenz der Marine verließ. Vor Wochen wurde das hochmoderne Laborschiff »Atair« – es gehört dem Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie – eingesetzt.
Und? Still ruht die See. Die Bundesregierung versicherte dieser Tage etwas unwillig, dass man »sämtlichen sachdienlichen Hinweisen zur Aufklärung des zugrunde liegenden Sachverhalts« nachgehe. Der GBA ist ganz abgetaucht. So wie seine Kollegen in Stockholm und Kopenhagen. Die EU und die Nato hatten unmittelbar nach dem Anschlag ebenso erschrocken wie wertfrei von »Sabotage« gesprochen und konzentrieren sich seither auf den Schutz der eigenen maritimen Infrastrukturen. Auch Moskaus Ermittler, mit denen die westlichen Kollegen keinerlei Zusammenarbeit anstreben, sind schweigsam.
War der Anschlag ein Musterbeispiel dessen, was man hierzulande einen hybriden Angriff und in den USA Grey-Zone Warfare nennt? Motive und Möglichkeiten, um jeweils ein paar Hundert Kilo Sprengstoff an den betonummantelten Stahlröhren anzubringen, haben viele Staaten. Und viele haben einen Nutzen davon, dass das Meerwasser eine Reparatur der Leitungen immer unwahrscheinlicher macht.
Nie bestätigt wurde das Gerücht, wonach die CIA die Deutschen bereits im Sommer vor einem Anschlag gewarnt habe. Hintergrund sei eine abgefangene russische Kommunikation gewesen, laut der ukrainische Diversanten in Schweden ein Boot mieten wollten. Absurd? Eine von den wahren Tätern in Moskau bewusst gelegte falsche Spur? Gab Präsident Wladimir Putin den Sprengbefehl, um – wie bereits mehrfach versucht – den europäischen Gasmarkt ins Chaos zu stürzen? Gäbe es darauf die geringsten Hinweise, würden Informationen sprudeln wie jüngst das Gas aus den gesprengten Röhren.
Die USA, Polen, Großbritannien und andere westliche Nationen haben seit Jahren einen erbitterten Kampf gegen die Fertigstellung des zweiten Pipeline-Strangs geführt, mit dem Deutschland und andere europäische Länder noch mehr vergleichsweise billiges Erdgas aus Russland erhalten sollten. Bereits Anfang Februar 2022, also rund einen Monat bevor Putin den Angriffsbefehl gegen die Ukraine ausgab, hatte US-Präsident Joe Biden auf einer Pressekonferenz angekündigt: »Wenn Russland (in die Ukraine) einmarschiert, wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.« Auf Nachfrage einer Journalistin, wie die USA dies anstellen wollten, da es sich ja um ein Projekt unter deutscher Kontrolle handele, sagte Biden: »Vertrauen Sie mir, wir werden dazu in der Lage sein.«
Am 30. September – also nur Tage nach den Anschlägen – meldete sich US-Außenminister Antony Blinken: »Wir sind jetzt der führende Lieferant von Flüssigerdgas für Europa …« Das sei eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beseitigen und Wladimir Putin die Möglichkeit zu nehmen, Energie als Mittel zur Durchsetzung seiner imperialen Pläne zu nutzen.
Was, wenn die brisanten Ladungen schon länger an den Pipelines angebracht waren? Die schwedische Marine hat – wie man einer Fachzeitschrift entnehmen kann – bereits 2015 nahe des Nord-Stream-2-Stranges eine mit Sprengstoff gefüllte Unterwasserdrohne entdeckt und geborgen. Womöglich nutzte nun jemand die Tatsache aus, dass durch Nord Stream 1 nur sporadisch und durch Nord Stream 2 gar kein Erdgas strömte, um seine Sprengladungen zu zünden. Es gab immer wieder Gerüchte, Russland habe den Leitungsbau genutzt, um ein Unterwasserortungssystem zu installieren.
Dem Vernehmen nach ist die Zusammenarbeit mit den schwedischen und dänischen Ermittlern nicht sehr intensiv, und natürlich liegt es nicht in der Macht der Bundesanwaltschaft, Putin, Biden oder Blinken als Zeugen zu vernehmen. Auch der neue britische Premier ist nicht in Reichweite der Karlsruher Ermittler. Dabei wäre Rishi Sunak als Sachverständiger womöglich interessant. Nicht etwa, weil Moskau Großbritannien beschuldigte, hinter den Nord-Stream-Explosionen zu stecken. Rishi Sunak hat als Parlamentshinterbänkler 2017 ein interessantes Dossier verfasst, in dem er die Anfälligkeit der lebenswichtigen Unterwasserinfrastruktur – von Kommunikationsdatenkabeln bis hin zu Öl- und Gaspipelines – beschrieb. Das Vorwort zu dieser Expertise stammt von US-Admiral James Stavridis. Er war einst Supreme Allied Commander Europe der Nato.
Stavridis weiß sicher ziemlich genau, ob und wie eines der US-Kriegsschiffe, die im Sommer mit Verbündeten mehrfach vor Bornholm Abschreckungsübungen gegen Russland abhielten, in der Lage ist, Sprengladungen an den Pipelinesträngen anzubringen. Das Nato-Manöver »Northern Coasts«, an dem das Schiff teilnahm, dauerte noch bis zum 28. September und damit ungewöhnlich lange. Das riesige Docklandungsschiff »USS Kearsarge« beispielsweise verließ die Ostsee erst am 21. September.
Genau in diese Zeit fällt ein Vorfall, der vom Satellitenunternehmen SpaceKnow in den Medien lanciert wurde. Wer die Firma etwas näher betrachtet, erkennt ihre enge Einbindung in US-Regierungsprogramme. Dank der aus dem Weltraum gewonnenen hochaufgelösten Radardaten und Methoden der Künstlichen Intelligenz haben die Experten in den drei Monaten vor den Explosionen 25 Schiffe gezählt, die durch die Region fuhren. 23 hatten die Transponder des automatischen Identifikationssystems (AIS) ordnungsgemäß eingeschaltet, zwei nicht. Über Identität und Absicht dieser »Dark Ships« lasse sich daher nichts sagen, meint Jerry Javornicky, CEO von SpaceKnow.
Falsch: Gerade Schiffe, die keine Transponderdaten teilten, sind für die Nato interessant. Die dänische Insel Bornholm bietet zudem geografisch die besten Bedingungen zur Überwachung des Ostseeraums, weshalb der militärische Geheimdienst des Landes in Østermarie eine hochmoderne und für die Nato existenzielle Anlage betreibt.
Seit dem Frühjahr agiert das Bündnis im »Enhanced Vigilance Activities«-Level. Die deutsche Marine ist in diese erhöhte Nato-Wachsamkeit eingebunden und hat – zum Teil bereits vor Ausbruch des Krieges – die Hälfte ihrer Flotte (einschließlich U-Boote sowie Hilfs- und Aufklärungsschiffe) für den Ostseeraum abgestellt. Welche Aufklärungsergebnisse brachten die vom Bundesnachrichtendienst gelenkten Flottendienstboote, die seit Februar von U-Booten begleitet in der Ostsee herumhorchen, heim? Solche Informationen gibt die Regierung – siehe diverse Auskünfte gegenüber Bundestagsabgeordneten – nicht preis. Aus Gründen des »Staatswohls«. Wieso ist das bedroht? Besteht die Gefahr, dass man Verbündete belastet? Und was sagt der Generalbundesanwalt? Der hatte bereits zu Beginn der Ermittlungen klargemacht: »Mit schnellen Ergebnissen ist nicht zu rechnen.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.