Ein tragfähiger Kompromiss

Vor 50 Jahren wurde der Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet

  • Jürgen Hofmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Egon Bahr (vorne, mit Unterlagen im Arm) empfängt Michael Kohl (links von ihm) am 24. Oktober 1972 in Bonn, knapp zwei Monate später unterzeichneten beide den Grundlagenvertrag.
Egon Bahr (vorne, mit Unterlagen im Arm) empfängt Michael Kohl (links von ihm) am 24. Oktober 1972 in Bonn, knapp zwei Monate später unterzeichneten beide den Grundlagenvertrag.

In den Vormittagsstunden des 21. Dezember 1972 unterzeichneten im Haus des Ministerrates der DDR in Berlin der Staatssekretär beim Ministerrat Dr. Michael Kohl und der Bundesminister für besondere Aufgaben Egon Bahr den Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Anwesend waren neben den zugelassenen Journalisten die Verhandlungsdelegationen beider Seiten. Von der ursprünglich einmal erwogenen Variante, den Vertrag durch Bundeskanzler Willy Brandt und die DDR-Spitze unterzeichnen zu lassen, hatten beide Seiten Abstand genommen. Auch eine Beteiligung von DDR-Außenminister Otto Winzer wurde fallen gelassen, da die Bundesrepublik dann den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen Egon Franke aufgeboten hätte.

Im Grundlagenvertrag vereinbarten beide deutschen Staaten, »unbeschadet unterschiedlicher Auffassungen (…) zu grundsätzlichen Fragen« Beziehungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung zu entwickeln sowie »die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten« zu respektieren. Im Artikel 7 wurden weitere Abkommen auf den Gebieten der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, des Verkehrs, des Rechtsverkehrs, des Post- und Fernmeldewesens, des Gesundheitswesens, der Kultur, des Sports und des Umweltschutzes in Aussicht gestellt. Für etliche der dort benannten Anliegen konnten zwischen 1974 und 1980 Vereinbarungen getroffen werden. Das Abkommen zur kulturellen Zusammenarbeit kam erst im Mai 1986 zur Unterzeichnung.

Besondere Herausforderungen für die Ausarbeitung des Vertragstextes zum Grundlagenvertrag erwuchsen aus der unterschiedlichen Position zur nationalen Frage. Während die Bundesrepublik im Angesicht der existierenden Zweistaatlichkeit weiterhin vom Fortbestand der deutschen Nation ausging und an der im Grundgesetz verankerten Option der staatlichen Wiedervereinigung festhielt, ging die DDR-Seite davon aus, dass die Geschichte über die nationale Frage entschieden habe und die staatliche Spaltung sowie die eingeschlagenen und sich verfestigenden unterschiedlichen Wege nicht mehr rückgängig zu machen seien. Darauf hatte sich die SED auf ihrem VIII. Parteitag 1971 festgelegt. Es mussten also von den Verhandlungspartnern Formeln und Lösungen gefunden werden, die internationalen Standards für zwischenstaatliche Verträge entsprachen, die jeweils andere Seite jedoch nicht zur Aufgabe ihrer Position nötigten.

Der Grundlagenvertrag trat 1973 nach seiner Ratifizierung durch den deutschen Bundestag im Mai und die Volkskammer im Juni in Kraft. Der Bundestag billigte den Grundlagenvertrag mit 268 gegen 217 Stimmen. Insbesondere CDU/CSU stellten sich gegen das Verhandlungsergebnis. Die bayerische Staatsregierung beantragte beim Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Verfügung, um das Ratifizierungsverfahren zu stoppen. Dem folgte der Zweite Senat des Gerichts nicht. Die Ablehnung im Bundesrat kam nicht zum Tragen, da keine Überweisung in den Vermittlungsausschuss beschlossen wurde. Ein Jahr später nahmen die Ständigen Vertreter, auf die sich beide Seiten geeinigt hatten, ihre Arbeit auf. Die Position der Bundesrepublik zur nationalen Frage ließ Botschaften nicht zu. Trotz der vormaligen Ablehnung seitens CDU/CSU sah sich die Regierung Kohl nach dem Amtsantritt 1982 an den Vertrag gebunden.

Die Verhandlungen zum Grundlagenvertrag waren eingebettet in eine Phase der Entspannung in Europa und zugleich ein wesentlicher Baustein in diesem Prozess. Die partielle Abkehr der damaligen Supermächte USA und UdSSR von der bisherigen scharfen Konfrontationspolitik bildete den globalen Hintergrund. Im März 1970 trafen sich die Botschafter der ehemaligen vier Alliierten im einstigen Gebäude des Alliierten Kontrollrats am Kleistpark in Berlin-Schöneberg. Am Ende langwieriger und komplizierter Verhandlungen stand das Vier-Mächte-Abkommen, das die Außenminister der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs am 3. September 1971 unterzeichneten und das am 3. Juni 1972 mit dem Schlussprotokoll in Kraft trat. Eingebunden in die Vereinbarung der vier Mächte war das Abkommen über den Transitverkehr zwischen der Bundesrepublik und Berlin (West), das zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausgehandelt und am 17. Dezember 1971 in Bonn unterzeichnet wurde. Noch ein Jahr zuvor in Erfurt und Kassel schienen gemeinsame Abkommen nicht möglich.

Den Durchbruch im Entspannungsprozess brachten im August und Dezember 1970 die Verträge von Moskau und Warschau. Ein Vierteljahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkrieges stellte erstmals eine Bundesregierung die Nachkriegsgrenzen nicht mehr infrage und verzichtete auf Gebietsansprüche. Das war innenpolitisch durchaus umstritten. Jahrzehntelang hatten die Vorgängerregierungen gemeinsam mit Vertriebenenverbänden Wunschvorstellungen genährt. Bei der Abstimmung zu den Verträgen im Bundestag enthielten sich die meisten CDU/CSU-Abgeordneten. Es dauerte noch bis Ende 1973, ehe mit der ČSSR ein vergleichbarer Vertrag zustande kam. Im Juli 1975 bekräftigten in Helsinki die USA, Kanada und die Sowjetunion sowie alle europäischen Staaten, außer Albanien und Andorra, in der KSZE-Schlussakte die in den vorangegangenen Verhandlungen und Verträgen erzielten Vereinbarungen zur europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit.

Mit dem Grundlagenvertrag endeten über zwei Jahrzehnte konfliktbeladener Konfrontation. Nachdem die Länder der Westzonen sich unter dem Schirm ihrer Besatzungsmächte 1949 zur Bundesrepublik Deutschland verbunden hatten, blieb den Ländern der sowjetischen Besatzungszone nur der Weg in eine eigene Staatlichkeit. Über das Angebot, der Bundesrepublik beizutreten, konnten sie ohnehin nicht selbst entscheiden. Es berührte unmittelbar Interessen der Sowjetunion und sollte deren Einfluss in Europa zurückdrängen. In Erwartung eines Friedensvertrages betrachteten alle Beteiligten die entstandene deutsche Zweistaatlichkeit allerdings zunächst als vorübergehend. Das Abkommen über den Interzonenhandel vom September 1951 umging den Bezug auf die neue staatliche Situation, indem es die unterschiedlichen Währungsgebiete zum Gegenstand machte.

In den 50er Jahren stellten beide deutsche Staaten gegenseitig ihre Existenzberechtigung infrage. Die DDR sah in der Bundesrepublik ein »amerikanisches Marionettenregime«. Gleichzeitig versuchte sie in den ersten Jahren über die Bildung einer Nationalen Front und über gesamtdeutsche Arbeiterkonferenzen Einfluss zu gewinnen. Unter der Losung »Deutsche an einen Tisch« sollten neben offiziellen Verhandlungsformaten gesamtdeutsche Kontakte gefördert und ein gemeinsamer Standpunkt zum erwarteten Friedensvertrag erarbeitet werden. Der DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl wandte sich an Bundeskanzler Konrad Adenauer. Dem folgte am 2. November 1951 eine Gesprächsofferte des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck an Bundespräsident Theodor Heuss, die dieser ablehnte.

Keine Realisierungschance hatte angesichts zugespitzter Konfrontation der Vorschlag für eine Deutsche Konföderation, den die DDR 1957 offiziell unterbreitete. Diese Idee hatte ursprünglich der Mitbegründer der CSU und Bundesfinanzminister Fritz Schäffer in einem Gespräch mit dem stellvertretenden Innenminister der DDR Vincenz Müller von der Nationaldemokratischen Partei (NDPD) bei einem Besuch im Juni 1955 in Ost-Berlin ins Spiel gebracht. Die Konföderationsidee erlebte Mitte der 60er Jahre noch einmal ein Revival, als die SED versuchte, über einen Redneraustausch mit der SPD ins Gespräch zu kommen. Der diskriminierende Beschluss des Bundestages, die Redner kurzzeitig von der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit freizustellen, erleichterte der SED den Rückzug aus dem Vorhaben.

Die Regierung der Bundesrepublik wiederum vertrat den Standpunkt, allein für die Vertretung aller Deutschen zuständig zu sein. Zugespitzten Ausdruck fand der Alleinvertretungsanspruch 1955 in der Hallstein-Doktrin. Nachdem die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen hatte, sollte verhindert werden, dass der Boykott der DDR auf internationalem Parkett brüchig wird. Die Aufnahme von Beziehungen zur DDR wurde zum »unfreundlichen Akt« erklärt und den betreffenden Staaten Sanktionen angedroht. Die Alleinvertretungs-These führte in der Praxis zu skurrilen Situationen. Als sich die Außenminister der vier Mächte 1959 in Genf trafen, um über die deutsche Frage zu beraten, war die Teilnahme beider deutscher Staaten vorgesehen. Um eine Aufwertung der DDR zu verhindern, wurde die »Katzentischlösung« gefunden. Beide deutsche Delegationen saßen an gesonderten Tischen, die mit einem kleinen Abstand zum runden Konferenztisch platziert waren. Der Außenminister der Bundesrepublik war zwar in Genf anwesend, mied aber den Konferenzsaal, um nicht mit seinem DDR-Amtskollegen zusammenzutreffen.

Die umstrittene deutsche Frage wurde schließlich mit den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen 1990 geklärt. Der Grundlagenvertrag wurde mit dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990 gegenstandslos.

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