Krach auf dem Olymp

Familienzwist im Hause Zeus und dessen Folgen für die Menschheit

Zeus verführt Leda in der Gestalt eines Schwanes: Gemälde »Leda and the Swan« von Rubens
Zeus verführt Leda in der Gestalt eines Schwanes: Gemälde »Leda and the Swan« von Rubens

Es blitzt und donnert, scheppert und knallt auf dem Olymp. Göttlicher Ehekrach. Das Bergmassiv ist von Rauchschwaden umwölkt. Das sich streitende Paar von göttlichem Geblüt schenkt sich nichts. Sie, die stolze Hera, weiß geschickt dem ihr von ihrem Gatten entgegengeschleuderten Wetterunbill, den Feuerwalzen und Hurrikans auszuweichen. Er, Gottvater Zeus, zeigt sich weniger beweglich und erleidet heftige Blessuren durch die ihm entgegenfliegenden güldenen Teller, Tassen und Trinkbecher. Aus denen man in Zeiten trauter Zweisamkeit köstliches Mahl verzehrte, sich an Nektar und Ambrosia labte. »Ich habe es satt, gründlich satt«, schreit Hera. »Schleich dich! Hau ab! Geh mir aus den Augen! Lass dich nie wieder hier blicken!« Zeus entgegnet mit hilfloser Unschuldsmiene: »Was habe ich denn getan? Du darfst den Gerüchten nicht glauben, alle neidgeboren, gehässig. Man will mich vom Throne stürzen. Deshalb die üblen Verleumdungen. Ich habe dich nie, nimmer und niemals betrogen!«

Eine glatte Lüge. Das weiß nicht nur Hera, das wissen alle Götter und Halbgötter auf dem Olymp, die sich nunmehr allerdings vorsorglich verkrochen, verdrückt, verdünnisiert haben. Denn es ist wahrlich kein Spaß, zwischen diese beiden temperamentvollen ehelichen Kombattanten zu geraten. Die Menschen am Fuße des stolzen Gebirges verkriechen sich ebenso. Das Orakel von Delphi ist gefragt wie noch nie. Alle wollen wissen, warum Erde und See beben. Und was werden wird.

Hera ist eine selbstbewusste Frau, sie liebt ihren Mann abgöttisch, verzeiht ihm die eine oder andere Schwäche. Denn sie weiß, was auch irdische Frauen wissen: Kein Mann ist vollkommen. Vor allem ist der Mann nicht die Krone der Schöpfung, wie später die Christen zu behaupten wagten – mit der Mär von der aus Adams Rippe geschnitzten Eva. Was für ein Schwachfug!

Hera kann sich nur wundern über den Aberglauben der Menschen. Schnickschnack, Hokuspokus. Zugegeben: Ebenso unglaubhaft wie die unbefleckte Empfängnis von Maria muss die Geburt der Athene anmuten, die dem Hirn von Zeus entsprungen sein soll. Bei dem Gedanken an die illegitime Tochter ihres Gemahls, gezeugt mit Metis, der ersten Geliebten ihres Gatten, einer Titanin, wallen ihre Gefühle erneut hoch. Schwungvoll holt sie aus, schleudert einen Kandelaber in Richtung des lüsternen Ehemannes. Jetzt ist Schluss mit lustig. Too much is too much.

Doch dann hält Hera inne. »Nein, das ist unfair«, gesteht sie sich ein. Sie kann und darf Metis nicht grollen. Hatte sich diese doch standhaft der obszönen Annäherungsversuche von Zeus zu erwehren versucht, indem sie sich in vielerlei Gestalten verwandelte, vorzugsweise in artengeschützte Pflanzen. Doch letztlich wurde auch sie ein Opfer seiner Begierde. Obgleich eine Titanin hatte sie keine Chance. Und hernach wurde sie vom Göttervater mit Leib und Seele verschlungen! Welch grausiges Schicksal.

Eine Weissagung hatte Zeus verkündet, dass eine Tochter, die Metis gebären würde, Zeus in der göttlichen Hierarchie gleichrangig wäre und ein Sohn ihn wegputschen würde. Dem wollte er vorbeugen. Und so ging der Me-too-Debatte eine prominente Zeugin verloren. Die Geburt der Tochter konnte Zeus jedoch nicht verhindern: Athene sprang mit einem martialischen Schlachtruf, in voller Rüstung und mit einem Wurfspeer bewaffnet aus seinem Schädel hervor. Bravo!

Auch gegenüber Athene kann Hera keinen großen Groll hegen. Obwohl sie Rivalin in einem von Zeus zynisch angeordneten Schönheitswettbewerb war. Hera, Athene und Aphrodite, »die Schaumgeborene«, eine Adoptivtochter des göttlichen Übervaters, sollten sich dem Urteil von Paris stellen. Alle drei Göttinnen versuchten die Gunst des Jünglings durch Bestechung zu erlangen: Hera versprach politische Macht, Athene Weisheit und Kriegsgeschick, und Aphrodite versicherte dem trojanischen Königssohn, die schönste Frau auf Erden für ihn zu gewinnen: Helena. Übrigens ebenfalls eine illegitime Tochter des Zeus. Er hatte sie, als Schwan verwandelt, mit Leda gezeugt. Die schöne Helena war mit Menelaos, dem König von Sparta, verheiratet. Dessen ungeachtet wollte Paris sie und übergab den Apfel seiner Wertschätzung Aphrodite. Was den Zorn der anderen beiden Göttinnen hervorrief – und der Menschheit ein blutiges Gemetzel bescherte.

Hera erinnert sich an ihr Bündnis mit Athene im Krieg um Troja. Ihre Gesichtszüge werden milder, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Vereint haben sie zugunsten der Griechen eingegriffen, die nach zehn opferreichen Jahren, die so vielen edlen Helden den Tod gebracht hatten, schließlich doch noch siegten. Wenn auch mit einer List. Einem hölzernen Pferd. Vor dem Kassandra, die kluge Tochter des Königs von Priamos und Schwester des Paris, eindringlich, aber vergeblich die freudentrunkenen Trojaner gewarnt hatte.

Athene und Hera haben vereint über Aphrodite triumphiert, die Göttin der Liebe. Deren Sohn Aineias wäre auch fast auf dem »Schlachtfeld der Ehre« verendet, hätte die Mutter ihn nicht rasch hinfortgetragen. So konnte Aineias Rom gründen. Auf ihn als Stammvater berief sich später das Geschlecht der Julier, zu dem der große Gaius Julius Caesar gehörte. 

Der legendäre Krieg, den Homer in seiner »Ilias« verewigt hat, war ergo letztlich auch nur Eitelkeit und Eifersüchtelei, Machtgehabe und Hegemonialstreben geschuldet. Daran ändert auch göttliche Legitimation nichts. Hera seufzt. Nicht etwa wegen dieser Einsicht. Nein, sie ist betrübt, dass sie von den Menschen bei Weitem nicht so verehrt und bewundert wird, wie Athene, die zudem zur Schutzgöttin der mächtigsten Polis in Griechenland avancierte.

Hera tröstet sich mit dem Gedanken, dass ihr Gatte ähnliche Sorgen hat. Auch seine Allmacht ist bei den Menschen nicht unumstritten. Dionysos, der Gott des Weines, des Frohsinns und der ausschweifenden Feste, erfreut sich bei den Hellenen zunehmend größerer Beliebtheit als Zeus. Da half es auch nicht, dass Hera den Gott in jungen Jahren prophylaktisch mit dem Bann des Wahnsinns belegt hatte. Vielleicht machte dieser Dionysos den Menschen gar attraktiver?

Während Hera noch darüber grübelt, schleicht sich Zeus an sie heran, umarmt sie. »Zürne mir nicht länger, holdes Weib. Du weißt doch, dass du mir die Liebste bist«, säuselt er ihr ins Ohr. Wieder einmal schafft er es, sie zu besänftigen. Die Rauchschwaden verziehen sich. Die olympische Patchworkfamilie feiert die Wiedervereinigung von Zeus und Hera mit einem üppigen Gastmahl, auf dem jeder und jede mit Wundertaten prahlt. Allen voran Zeus. Er nennt die Entstehung der europäischen Zivilisation sein Verdienst. Hera knufft ihm in die Seite und zischt: »Aber nur durch Lug und Trug.« In Gestalt eines Stieres hatte Zeus die arglos am Strand von Tyros spielende Tochter eines phönizischen Königs namens Agenor ent- und verführt. Das unschuldige Mädchen hieß Europa.

Im Grunde ihres Herzens empfindet Hera Mitleid mit Europa. Hat sie doch Gleiches in jungen Jahren erlitten. Die Schwester des Zeus war ahnungslos, als eines Tages ein Unwetter ihre Sinne vernebelte und ihr Bruder, als Kuckuck getarnt, sie zur Frau nahm.

Hera hat sich mit der Situation arrangiert. Ihr Name wird als weibliche Form von Heros gedeutet, was Held und zugleich Herr meint. Sie vermag sich zweifellos, trotz Unbill und aller Ärgernisse, als Herrin ihres Bruder-Gemahls zu behaupten. Sie wusste sich bisher noch immer an ihm zu rächen. Und Rache ist süß. Auch Europa revanchierte sich für die Vergewaltigung. Nach der Geburt des Minos brachte sie noch zwei Söhne auf die Welt: Rhadamanthys und Sarpedon. Deren exotische Namen lassen vermuten, dass ihre leiblichen Väter Prinzen oder Götter orientalischen Geblüts waren.

Nun muss man allerdings wissen, dass auch Zeus, Sohn der Titanen Kronos und Rhea, indogermanische Wurzeln hatte. Der mächtigste olympische Gott, ein Migrant? Wie auch immer. Der amourösen Symbiose von Zeus und Europa entsprang die erste europäische Kultur: auf Kreta. Der Palast von Knossos zeugt noch heute vom einstigen Reichtum und der Kunstfertigkeit der Kreter. Und von ihrer Friedfertigkeit. Sie mussten keine Feinde fürchten, konnten auf den Bau von Trutzburgen und hohen Stadtmauern verzichten. Dank friedlicher Koexistenz mit den Nachbarn im östlichen und westlichen Mittelmeerraum und darüber hinaus. Man tauschte Öl und Getreide gegen Edelmetalle und Gewürze. Und die Frauen von Kreta waren den Männern fast gleichgestellt, privilegierter als in den nachfolgenden Gesellschaften.

Unglücklicherweise bereiteten mehrere verheerende Erd- und Seebeben dieser Idylle ein Ende. Ob ausgelöst durch einen Ehekrach im Hause Zeus auf dem Olymp, kann die Chronistin nicht belegen.

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