Wie die Liebe Gottes

Mit 72 Jahren veröffentlicht Lee Fields sein 21. Album, ein Neustart für das Label Daptone Records

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 5 Min.
Man beachte das Kreuz im Ausschnitt! Lee Fields and The Expressions 2019 in Kopenhagen.
Man beachte das Kreuz im Ausschnitt! Lee Fields and The Expressions 2019 in Kopenhagen.

Gabriel Roth verkörpert das, was man früher »Hans Dampf in allen Gassen« nannte. Roth ist Musiker, arbeitet auch als Produzent, Songwriter, Tontechniker und Labelbetreiber, und bezeichnet sich als »hoffnungslosen R&B-Anhänger«. Gemeint ist R&B im altmodischen Sinne; hier bezeichnet es den spelunkigen älteren Bruder des Rock’n’Roll. Rhythmischer, intensiver Gospel und Blues, zu dem man gleichermaßen tanzen und vögeln kann. Die Urform des Soul.

Um seine Neigung für andere hörbar zu machen, gründete Roth Daptone Records. Erster Release des Labels war im Jahr 2002 das Debütalbum der phänomenalen Sängerin Sharon Jones, die damals schon 45 Jahre alt war. Die dazugehörige Band, The Dap Kings, war eine schweißtreibende Funk-Maschine aus den dunkelsten Kellern Brooklyns, mit Gabriel Roth am Bass als Teil einer jungen Band, bestehend aus vornehmlich weißen Soul-Nerds.

Die vergangenheitsverliebte, komplett analoge Produktion im Stile der 60er Jahre wurde Roths Markenzeichen und sie machte ihn erfolgreich: Die Dap Kings tourten mit Sharon Jones um die Welt, als Toningenieur für Amy Winehouses Album »Back To Black« gewann er einen Grammy. Dann kamen die Schicksalsschläge: Erst starb Sharon Jones, dann der ähnlich begabte Sänger Charles Bradley. Daptone Records lag am Boden, nach 2018 erschienen nur noch wenige Platten auf dem Label. Und dann besann sich Roth auf einen Mann, mit dem er schon einmal vor 25 Jahren eine Single aufgenommen hatte: Lee Fields. »The greatest soul singer alive today«, so beschreibt das Label Fields mit typisch US-amerikanischer Großspurigkeit. Nur: Wer sollte es denn sonst sein? James Brown ist lange tot und Al Green predigt in Memphis in seiner Kirche. In dieser Liga singt Lee Fields: ein Mann im besten Soul-Alter von 72 Jahren.

»Musik hat mich früh fasziniert, ich habe alles aufgesogen, von James Brown bis Led Zeppelin«, berichtet der US-Amerikaner, zugeschaltet per Videokonferenz aus seinem Arbeitszimmer in Plainfield, New Jersey. »Als ich in einer Talentshow sang, drehten die Mädchen durch. Das ist nicht schlecht, dachte ich mir. Danach stellte mich eine Band als Sänger ein und sie zahlte mir mehr als den Lohn fürs Zeitungsaustragen.«

Fields war 1967 aus North Carolina nach Brooklyn gekommen, im zarten Alter von 17 Jahren. Bald verdiente er sich seine Miete damit, in den Bars und Clubs des Viertels James-Brown-Covers zu singen – was ihm den Spitznamen »Little JB« einbrachte. Der Sänger erinnert sich an Formen der Anerkennung in den Anfangsjahren: »Die Mädels waren das Sahnehäubchen – aber eigentlich wollte ich Geld verdienen! Ich kann dir nichts über Armut erzählen, oder darüber, wie es ist, in Autos zu schlafen. Ich bin ein Businessman, und darauf bin ich stolz.«

1969 erschien seine erste Single, im selben Jahr tourte Fields mit den späteren Disco-Millionensellern Kool & the Gang. Doch als deren Manager starb, schlief auch die Verbindung zur Band ein. Lee Fields veröffentlichte in den folgenden Jahrzehnten bei 13 verschiedenen Labels seine Alben, keines davon wirklich erfolgreich. In den 80ern verdingte er sich als Immobilienmakler (»Ich habe Grundstücke gekauft, um meine Familie abzusichern. Das lief gut. Ich lebe nicht wie die Trumps, aber mir geht’s gut.«). 1996 traf er bei einer Session erstmals auf Gabriel Roth, doch seinen späten Karriereschub verdankte der Sänger vor allem dem New Yorker Konkurrenz-Label Big Crown Records. The Expressions hieß die Band, mit der Fields sechs Alben aufnahm. Mit dabei: Organist Victor Axelrod, Gitarrist Thomas Brenneck, Trompeter Dave Guy und Saxophonist Lee Sugarman. Zusammen mit Drummer Homer Steinweiss und Gabriel Roth am Bass bilden sie den Kern der Band, die nun für Daptone Records »Sentimental Fool« eingespielt hat – Lee Fields 21. Album.

Roth hat Fields zwölf neue Songs auf den Leib geschrieben, die problemlos aus den Archiven des legendären Labels Stax stammen könnten: Knackig-kurze Bläser-Intros, sehnsuchtsvolle Gitarrenmotive, verlässlich wummernder Bass, viel Gospel und Funk – R&B in schwitziger Reinkultur. Auch die prominent abgemischte Orgel von Axelrod klingt großartig, zu hören auf dem an Ray Charles erinnernden »Two Jobs«. Auch »Without a Heart« hat diesen treibenden Beat – zeitloser Soul, den man vor 60 Jahren kaum anders aufgenommen hätte. Die Retro-Manie des Gabriel Roth hat sich ausgezahlt: Ein satteres, besser produziertes Soul-Album als »Sentimental Fool« wird man im Jahr 2022 nicht finden.

Und Fields selbst? Singt Texte voller Klischees: Gib mir noch eine Chance, gib mir deine Zeit, verlass mich nicht! Aber wie er die singt! Wenn er im intensiven »Ordinary Lives« mit samtweich-verzweifelter Intonation fleht »If you go now I don’t think that I can take it«, dann hat das gerade die richtige Menge Sam-Cooke-Schmalz, genau die Überhöhung, die ein großer Soul-Song braucht.

Fields Timbre klingt sogar über eine wacklige Zoom-Verbindung beeindruckend. Leider gibt der Mann über seine Arbeitsweise wenig erhellend Auskunft. Er erwähnt Honig als Schmiermittel für die Stimmbänder und sagt, er versuche immer, er selbst zu sein. »Du musst negative Dinge ausblenden!« ist sein Tipp für ein glückliches Leben, dann folgt ein Bibelzitat. Aber einem solch außergewöhnlichen Künstler sollte man solche Plattitüden nicht zum Vorwurf machen.

»Soul-Musik strömt aus Lee Fields, so frei und unablässig wie die Liebe Gottes« – zugegeben, im englischen Original auf seiner Website klingt dieser Satz deutlich lässiger. Doch auch als Atheist muss man zum Schluss kommen: Lee Fields hat eine Stimme, die selbst dem Heiland feuchte Augen machen würde.

Lee Fields: »Sentimental Fool« (Daptone Records)

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.