- Politik
- 100 Jahre Sowjetunion
Lenins Zahnschmerzen und eine Zeitbombe
Vor 100 Jahren wurde die Sowjetunion gegründet – ein Ereignis von historischer Bedeutung
Eines der ersten Dekrete der mit der »Großen Sozialistischen Oktoberrevolution« am 7. November 1917 in Russland an die Macht gelangten Sowjetregierung mit Wladimir Iljitsch Lenin als Vorsitzenden war die »Deklaration der Rechte der Völker Russlands«. Sie versprach »Gleichheit und Souveränität«, das Recht auf »freie Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates«, die »Abschaffung aller und jeglicher nationalen und national-religiösen Privilegien und Beschränkungen« sowie die »freie Entwicklung der nationalen Minderheiten«.
Zur Verwirklichung dieser – auch heute über Russland hinaus aktuellen – Prinzipien haben die Bolschewiki im blutigen Bürger- und Interventionskrieg unerwartet und unerwünscht aus der riesigen Konkursmasse des russischen Zarenreiches Finnland, Estland, Lettland, Litauen und die russischen Teile Polens in die staatliche Unabhängigkeit entlassen. Andere Völker – in Mittelasien und im Kaukasus, sowie die Ukraine, Armenien, Georgien und Aserbaidschan – banden sie währenddessen durch militärische Gewalt und Umsturz an Sowjetrussland. In dramatischen Auseinandersetzungen in und zwischen den Führungsspitzen der kommunistischen Parteien der Sowjetrepubliken und im Duell zwischen Lenin und Josef W. Stalin kam die Gründung der UdSSR zustande.
Union oder Föderation?
Der schon schwerkranke Lenin war zu der Auffassung gelangt, dass eine Föderation gleichberechtigter Sowjetrepubliken der staatliche Rahmen für den sozialistischen Aufbau sein müsse. Dagegen sahen Stalin und andere diesen in der Russischen Föderation, in die die anderen Sowjetrepubliken eintreten sollten, wobei jenen allerdings Autonomie zu garantieren wäre.
Am 30. Dezember 1922 beschloss der I. Sowjetkongress der UdSSR in Moskau die Bildung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Zu ihr gehörten zunächst die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR), die Ukrainische und die Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik sowie die wenige Tage zuvor gegründete Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, zu der die Sowjetrepubliken Armenien, Aserbaidschan und Georgien zusammengefügt worden waren. Die Union wuchs bis 1936 durch innere Umgestaltungen auf elf und durch Okkupation und Angliederung 1940, ein Jahr nach dem Nichtangriffsvertrag zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion und dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen, auf dauerhaft 15 Unionsrepubliken an.
Bereits bei der Diskussion zur nationalen Frage auf den X. Parteitag der KPdSU (Bolschewiki) im März 1921, in der Stalin die RSFSR als »Iebendige Verkörperung« der gesuchten Form des staatlichen Bündnisses der Republiken pries, hatte das Mitglied des ZK der KP der Ukraine, Wolodomir P. Zatonski, erklärt: »Wir müssen aus den Köpfen der Genossen die Vorstellung von der sowjetischen Föderation als unabdingbar ›russländische‹ Föderation tilgen, denn es handelt sich nicht darum, dass sie eine ›russländische‹, sondern darum, dass sie eine sowjetische Föderation ist. Zatonski sprach hier die Grundproblematik der Union an.
Im August 1922 wurde eine Kommission des ZK der KPR(B) gebildet, die einen Resolutionsentwurf über die Vervollkommnung der föderativen Beziehungen zwischen der RSFSR und den anderen Sowjetrepubliken für ein ZK-Plenum ausarbeiten sollte. Im September lag der von Stalin erarbeitete Entwurf vor, dem der Plan der Autonomisierung zugrunde lag.
Kampf dem russischen Chauvinismus
Lenin übte heftige Kritik an diesem Papier. In einem Brief an die Politbüromitglieder schlug er eine prinzipiell andere Lösung vor: den freiwilligen Zusammenschluss aller Sowjetrepubliken durch ihren Beitritt zur neuen Föderation, gleichberechtigt und auf gleichem Fuße. Stalin hielt sich zurück. Die Kommission überarbeitete im Leninschen Sinne den Entwurf. Ein Plenum des ZK der KPR(B) nahm Anfang Oktober die entsprechende Resolution an. Die anderen Parteien folgten. Der Weg zur Union war frei. Doch da ereignete sich der «georgische Zwischenfall».
Lenin, von Zahnschmerzen geplagt, erklärte zur Bekräftigung seiner Linie in einer Notiz für das Politbüro am 6. Oktober 1922: «Dem großrussischen Chauvinismus erkläre ich den Kampf auf Leben und Tod. Sobald ich erst den verfluchten Zahn los bin, werde ich mich mit allen gesunden Zähnen auf ihn stürzen.» Dabei stellte er auch den Nationalismus der kleinen Völker in Rechnung. Als das ZK der georgischen KP die Forderung erhob, dass Georgien nicht im Rahmen der Transkaukasischen Föderation, sondern selbständig in die zu gründende Union eintreten sollte und im Zerwürfnis darüber mit dem Transkaukasischen Komitee der KPR(B) und dessen Vorsitzenden Grigori Ordshonikidse kollektiv seinen Rücktritt erklärte, kam es zu Handgreiflichkeiten und Beschimpfungen.
Empört versuchte Lenin zu vermitteln. Doch während der I. Sowjetkongress tagte, war er ans Krankenbett gefesselt. Er diktierte seine bis heute bemerkenswerten Überlegungen «Zur Frage der Nationalitäten oder der Autonomisierung». Er forderte, zwischen dem Nationalismus einer großen, unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer kleinen, unterdrückten Nation zu unterscheiden. Es ginge nicht nur um eine formale, sondern eine faktische Gleichheit zwischen den Nationen. Lenin riet zur «größten Vorsicht, Zuvorkommenheit und Nachgiebigkeit» bei der Gestaltung der nationalen Beziehungen. Es gäbe «keinen Zweifel» daran, dass die UdSSR bestehen bleiben und gefestigt werden sollte. Ein «nur mit Sowjetöl gesalbter», weitgehend alter Staatsapparat würde jedoch «einen Schritt zurück» bedeuten.
Antikommunismus und Nationalismus
Während sich in den 1920er Jahren nationales Leben entfalten konnte, unterjochte im nachfolgenden Jahrzehnt das stalinistische Regime mit Gewalt und Terror die Völker. Im «Großen Vaterländischen Krieg» rückten sie wieder enger zusammen. Letztlich wurde aber immer deutlicher, dass sich die UdSSR zu einer «russländischen» Föderation entwickelt hatte, in der das «Sowjetische», also «Sozialistische», mehr und mehr verdrängt wurde und der Imperiumsgedanke um sich griff.
Hinter dem beruhigenden Dogma der «endgültig gelösten nationalen Frage» reiften nationale Bewegungen mit neuen Eliten und nationalen Konflikten heran. Sie entluden sich während der Perestroika in einer «Explosion des Ethnischen» – nicht nur gegen das Zentrum Moskau – und führten zum Zerfall der UdSSR. Die 15 Nachfolgestaaten konstituierten sich mit den Bindemitteln des Antikommunismus und des Nationalen.
Die Gründung der UdSSR vor 100 Jahren hat im aktuellen Geschichtsverständnis des russischen Präsidenten Wladimir Putin und den ihm nahestehenden Historiker*innen einen wichtigen Platz. Dieses Geschichtsbild wird getragen von einem Großmachtdenken und der patriotischen Beschwörung einer tausendjährigen russischen Staatlichkeit, in der die Sowjetperiode mit ihren Errungenschaften und Fehlentwicklungen eingebunden ist und die als eine geschichtliche Komponente im Aggressionskrieg gegen die Ukraine propagiert wird.
Für Putin und Gleichgesinnte sind die «Bolschewiki» der ersten Generation um Lenin jene «orthodoxen Marxisten», die in Genfer Kaffees die Weltrevolution planten, voller «Hass auf das historische Russland» waren. Durch ihre revolutionäre Tätigkeit hätten sie Russland destabilisiert, etwa indem sie den Brester Frieden 1918 mit Deutschland unter Preisgabe großer, wichtiger Territorien zum Erhalt der Revolution und ihrer Macht unterschrieben und damit «Verrat an Russland» begangen hätten. «Keine einzige Revolution lohnt sich angesichts der Opfer, welche sie dem menschlichen Potential zufügen», postulierte Putin. Für ihn war Lenin «eher kein Staatsmann, sondern ein Revolutionär».
Russland war ein streng zentralisierter, unitärer Staat. Lenin schlug – nach Meinung Putins – faktisch «keine Föderation, sondern eine Konföderation» vor. Der Leninsche Plan eines Unionsstaates als Föderation gleichberechtigter Republiken mit dem Recht des Austritts aus dem supranationalen Verbund habe die «gefährlichste Zeitbombe in das Fundament unserer Staatlichkeit gelegt». Sie «tickte und tickte» und sei explodiert, als der Sicherheitsmechanismus in Form der führenden Rolle der KPdSU verschwand. Eine «Parade der Souveränitäten» begann. Die moderne Ukraine sei dabei ganz und gar ein Kind der Sowjet-Ära. Lenin sei ihr «Autor und Architekt». Die Eigenständigkeit des heutigen ukrainischen Staates sei «auf Kosten des historischen Russlands geschaffen» worden. Für den historisierenden russischen Präsidenten steht zweifelsfrei fest, dass «Russland de facto ausgeraubt wurde». Der dahinter stehende Wunsch ist offensichtlich: Putin und sein Gefolge möchten das Rad der Geschichte zurückdrehen, nicht zur «totalitären» Sowjetunion, sondern zu einer Renaissance eines «Großen Russlands».
Prof. Dr. Horst Schützler lehrte an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Autor zahlreicher Publikationen zur russischen und sowjetischen Geschichte.
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