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Überflieger mit großem Rucksack
Vor dem Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen jagen noch zwei Deutsche den Norweger Halvor Egner Granerud
Die Mission scheint fast aussichtlos, dennoch ist der Optimismus groß. »Natürlich wird er schwer zu schlagen sein, wenn er so weitermacht. Aber die Tournee hat ihre eigenen Regeln, das habe ich selbst schon erfahren«, sagt der deutsche Skispringer Karl Geiger und fügt mit Blick auf das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen (14 Uhr/ARD und Eurosport) hinzu: »Wenn er sich Fehler erlaubt, werden andere in den Startlöchern stehen.«
Mit »er« ist der Norweger Halvor Egner Granerud gemeint, der am Donnerstagabend das Auftaktspringen der 71. Vierschanzentournee in Oberstdorf mit haushohem Vorsprung gewann. Zu seinen Jägern gehören nach den durchwachsenen Leistungen des bisherigen Winters ziemlich überraschend auch zwei Deutsche: Karl Geiger und Doppel-Olympiasieger Andreas Wellinger. Ihr Rückstand in der Gesamtwertung auf Überflieger Granerud scheint gewaltig. Der viertplatzierte Geiger muss in den restlichen drei Tournee-Stationen knapp 10,5 Meter (18,8 Punkte) aufholen, Wellinger auf Rang sechs sogar 15 Meter (27,2 Punkte).
Granerud hat am Schattenberg den Tourneeauftakt vor den beiden Polen Piotr Żyła (13,4 Punkte zurück) und Dawid Kubacki (17,5) mit dem größten Vorsprung seit elf Jahren gewonnen. Damals im Winter 2011/2012 triumphierte der Österreicher Gregor Schlierenzauer in Oberstdorf und wurde danach überlegen Gesamtsieger. Doch nicht einmal der 26-jährige Granerud selbst scheint davon überzeugt, dass es diesmal genauso laufen wird. Darauf angesprochen erinnerte sich der Norweger umgehend an den darauffolgenden Winter, als sein Landsmann Anders Jacobsen bei Tournee-Halbzeit mit 12,5 Punkten Vorsprung geführt und dennoch den Grand Slam der Skispringer noch gegen Schlierenzauer verloren hatte.
»Natürlich sind 13 Punkte Vorsprung besser als null. Hoffentlich geht es in Garmisch besser als im letzten Jahr«, sagt Granerud nachdenklich. Vor einem Jahr hatte er nach einem starken zweiten Platz beim Auftakt in Oberstdorf mit einem achten Rang beim Neujahrsspringen alle Chancen auf den Gesamtsieg verspielt. Es war nicht das einzige Mal in seiner Karriere, dass Granerud im entscheidenden Moment Nervenstärke vermissen ließ. Im Winter 2020/21 gewann er zwar souverän den Gesamtweltcup, verpasste aber als haushoher Favorit sowohl bei der Tournee als auch bei den Weltmeisterschaften in Oberstdorf das Podest im Einzel.
Psychologisch habe sich Granerud damit »einen großen Rucksack abgeholt – den muss er jetzt schleppen. Und wir geben weiter Gas«, sagt der Bundestrainer Stefan Horngacher. Auch er hat trotz des großen Rückstands seines Topduos den Traum vom ersten deutschen Tournee-Gesamtsieg seit 21 Jahren längst noch nicht aufgegeben. Im vergangenen Winter war Geiger als Gesamtspitzenreiter zur Tournee angereist und am großen Druck zerbrochen. Diesmal sind die deutschen Flieger als Außenseiter angetreten und kommen als Jäger mit jedem Sprung der Weltspitze näher.
»Das war mein bestes Ergebnis in Oberstdorf«, erklärte auch Wellinger strahlend. Nach einer dreieinhalbjährigen Leidenszeit mit diversen schweren Verletzungen ist der 27-Jährige drauf und dran, wieder an alte Erfolge anzuknüpfen. Eine Sprunggelenksblessur ist fast ausgeheilt und nach einem Skiwechsel vor der Saison passt auch das Material. Wellinger war zweimal der Schnellste in der Anfahrt, nun muss nur noch der Flug perfekt passen.
Auch der viermalige Weltmeister Karl Geiger kommt immer besser ins Fliegen, wie nicht nur Horngacher beobachtet hat: »In Oberstdorf hat Karl den Wettkampf-Geiger zum ersten Mal herausgeholt und ist aufs Pedal gestiegen.« Was wohl heißen sollte, dass Geiger wieder mit mehr Selbstvertrauen und Angriffslust springt.
Aber reicht das, um den ehemaligen Orientierungsläufer Granerud zu gefährden? Dessen Trainer Alexander Stöckl glaubt, dass auch sein Topmann durch die »Superbestätigung in Oberstdorf sehr viel Selbstvertrauen« für das Neujahrsspringen und den Rest der Tournee gesammelt habe. Im Einzeltraining vor Weihnachten arbeitete Granerud erfolgreich an seinem latenten Absprungfehler, der ihn im Laufe des Flugs immer wieder bis an den äußersten Rand des Aufsprunghangs getrieben hatte. »Die Ski kommen jetzt schneller, die Flugposition ist besser und der Sprung stabiler«, erklärt Stöckl. Und so kann Granerud den ersten norwegischen Tournee-Gesamtsieg seit Anders Jacobsens vor 16 Jahren anvisieren.
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