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Beim 1000. Tor läuteten die Glocken
Zum Tod des brasilianischen Fußballgenies Pelé, eines der letzten ganz großen Fußballästheten
Leben heißt sehr oft, wider eigenen Willen an der Entzauberung der Welt teilnehmen zu müssen. Leben heißt aber auch, dieser Entzauberung so oft wie möglich ein Schnippchen zu schlagen. Sonst würden wir doch gar nicht existieren wollen. Wir brauchen das Erhebende, das Monumentale, von dem wir uns gern ergreifen und mitreißen lassen. Dafür gibt es, zum Beispiel, die Kunst. Jemanden, der die Kunst braucht, kann man getrost fragen, wann er das letzte Mal erschüttert, aufgewühlt, beseelt etwa aus einem Theater gekommen sei. Er wird eine Antwort wissen. Einen Sportsfreund darf man das auch fragen. Einen regelmäßigen Teilnehmer von Parteiveranstaltungen vielleicht weniger.
Mit Edson Arantes do Nascimento hat, mit 82 Jahren, ein Letzter der ganz Großen das Spielfeld Leben verlassen. Ganz groß? Da hat jeder seine Kriterien. Franz Beckenbauer hat den Libero erfunden, das Duo Xavi/Iniesta zum Beispiel steht für höchstklassige Dienlichkeit im Siegeszug einer Ära, Manuel Neuer gab Impulse für eine Neudeutung des Torwartspiels. Und Maradona schaffte es 1986, im Mannschaftssport Fußball ganz allein die WM-Krone zu holen. Messi, Ronaldo, Zidane.
Aber Pelé! Er wurde dreimal Weltmeister, in den Jahren 1958, 1962 und 1970. Er wurde der erfolgreichste WM-Turnierspieler der Geschichte, verkörperte Bewegung, in der die Einbildungskraft zündete. Er bleibt in Erinnerung als Großstern jener verlorenen Zeit, in der Sport und Ästhetik weit enger zusammengedacht werden durften als je danach. Als er spielte, gab es noch die Dialektik von Kunstschönem und Erfolgsstreben, es galt noch als Wahrheit, dass sich Kunst relativ reibungslos mit dem Siegen vertrug. Beim Fußball siegt die untilgbare Lust über jede bessere Einsicht. Und Pelé war ein besonderes Sinnbild dieser Lust, weil er in seinem Raum- und Zeitspiel zwischen Präzision und perlender Improvisation einfach alles – mit Lust – beherrschte: den Pass, das Dribbling, den Lauf, den Torschuss sowieso. Ja, der Ball wurde einst nicht nur geschossen, sondern auch getragen. Die Athletik hatte noch nichts Rambohaftes an sich. Noch der große Individualist ist doch heute hauptberuflich Wachbeamter im Hochsicherheitstrakt Mittelfeld. Souveränität wurde so zu einem Effekt aus der Investition von Energie in sehr flache Prozesse. Die Kreise zogen sich zu. Auch Pelé müsste sich heute wahrscheinlich beim Dribbelversuch auf dem Spielfeld vorkommen wie in einer stacheldrahtbewehrten, von gegnerischen Spielern vollbesetzten Telefonzelle.
Pelé und der brasilianische Fußball – es darf auch an das WM-Halbfinalspiel 2014 in Belo Horizonte erinnert werden. Wieso? Das war doch sehr lang nach seiner Zeit. Ja und Nein. Siege verjähren, die Zeit der Tragödien aber ist: immer. Deutschland gewinnt 7:1. Diese glorreichen Sieben. Allein vier Treffer in sechs Minuten. Das ist nicht erklärbar.
Aus einer heiligen Verehrung durch brasilianisches Publikum wurde teuflische Verachtung für die Eigenen. Die eben noch inbrünstig, gemeinsam mit ihren brasilianischen Spielern, a cappella die Nationalhymne gedröhnt hatten, als könne man die in die Stadionluft meißeln – sie wechselten mehr und mehr hinüber ins gellende Pfeifen, als gelte es plötzlich, mit Vaterlandsverrätern abzurechnen. Vom Fußball in die Welt gedacht: So furchterregend rasch zerschellt ein aufgezogenes Sternenfeld auf dem Boden der Tatsachen. Wutschreie gegen die Seleção. Mittelstürmer Fred als Sündenbock – und hatte Trainer Scolari nicht überhaupt sträflich starrköpfig an Spielern und Strukturen festgehalten, die seit langem schon einem Zündeln am Volkszorn gleichkamen?
In den Brasilianern schien sich der Mensch zu offenbaren, dem die Fäden zur Schöpfung gekappt wurden. Jede Glutfarbe ist so viel Schminke wie das Aschegrau. Wer mit Leidenschaft spielt, weiß doch: Alles ist abwaschbar, wenn der Vorhang fällt. Und in jener bitteren Situation wurde – bislang einmalig – vom brasilianischen Staat eine Trost-Hotline eingerichtet, und beim telefonischen Kontaktpartner für die Enttäuschten und Verzweifelten im Lande griff man wahrlich zum Höchsten: zu Pelé. Tag und Nacht sprach er. Und er tröstete, als sei Prediger sein Zweitberuf.
Auch dieses Detail offenbart, dass er das letzte Fußballidol Brasiliens war, das voll und ganz den Leuten, dem Volk gehörte. Als schlösse sich ein Kreis: Als er sein 1000. Tor für Santos erzielt hatte, läuteten im Lande die Glocken. 18 Jahre lang spielte er in Santos, gewann Titel um Titel mit dem Klub. Seine Tore schoss Pelé vorzugsweise in der Heimat, er widerstand allen Angeboten aus Italien und Spanien.
Der Sohn armer Eltern aus Tres Coraçoes kannte den Triumph und dessen Härtegebot. Bei der WM 1966 in England machte der Gruppengegner Portugal regelrecht Jagd auf ihn, er wurde aus der Partie hinausgefoult. 1970 dann noch einmal der ganze schöne Pelé-Zirkus und ein Sieg für das beste brasilianische Team aller Zeiten: Gilmar etwa, Garrincha. Djalma und Nilton Santos, Didi, Vavá.
Er hat viel Glück gehabt und Geld. Er parlierte als Superstar in New York, kam zurück und ging den Nationaltrainern des Landes auf die Nerven, mal mit der Wahrheit, mal mit auftrumpfender Unwissenheit. Der Schusterlehrling, den seine Fußballschuhe zum reichen Mann gemacht hatten, war 16, als er in der Nationalmannschaft debütierte, mit 37 hörte er auf mit dem Sport. Es folgte das Übliche: Geschäfte und Politik. Pelés Jahre als Sportminister brachten kaum Ergebnisse, die sich an den großen Ankündigungen hätten messen können. Aller Anfang ist schwer? Fast alle Karrieren erzählen, dass das Ende weit schwieriger zu leben ist.
Bei jedem Bein, das im Fußball die Flugbahn des Balles stört, fragst du dich, ob es nicht besser wäre, könnte man alles berechenbarer, vorausschaubarer einrichten. Dann müsste man wohl auch die Demokratie abschaffen. Fußball verwirrt wie die Demokratie. Sie ermöglicht ja auch zu viele unwägbare Optionen. Das Regime unserer Einbildungskraft, wie unser Leben sein möge, wenn wir denn anders könnten und es nur auf uns selbst ankäme – das ist unter allen Regimes das freundlichste, aber doch ewig schwächste. Es kommt niemals nur auf uns selbst an. Der brasilianische Ballzauber, verbunden mit dem Namen Pelé, lässt über die Halbwertzeit aller Arten von analytischem Realismus nachdenken. Es geht um die berühmten Dinge zwischen Himmel und Erde, zwischen Anpfiff und Abpfiff, denen keine Schulweisheit beikommt. Schön, so zu denken, wenn ein Mensch geht.
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