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Starker juristischer Tobak

Eine ungewöhnliche Allianz einzelner Politiker will die Berliner Wiederholungswahl vom Bundesverfassungsgericht stoppen lassen

  • Rainer Rutz
  • Lesedauer: 7 Min.

Am Mittwoch will Berlins Landeswahlleiter Stephan Bröchler bei einem Foto- und Pressetermin im Rathaus Zehlendorf öffentlichkeitswirksam demonstrieren, »wie ein Briefwahlzentrum für die Wiederholungswahlen arbeitet«. Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen sind dann eigentlich schon angelaufen. Ab Montag, verspricht Bröchler, werden für die rund 2,8 Millionen Wahlberechtigten in Berlin »die Wahlbenachrichtigungen gedruckt, kuvertiert und versandt« – Voraussetzung nicht nur für die Abstimmung im Wahllokal am 12. Februar, sondern auch für die Briefwahl, die damit ab kommender Woche möglich ist.

Den Termin in Zehlendorf kann sich Bröchler sparen, finden vermutlich mindestens jene über 40 Berlinerinnen und Berliner, die kurz vor Weihnachten beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine gemeinsame Verfassungsbeschwerde und einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eingereicht haben. Das erklärte Ziel des Antrags: die Wiederholungswahl am 12. Februar erst einmal zu stoppen.

Nach einer recht eindeutigen Vorfestlegung Ende September hatte das Berliner Landesverfassungsgericht am 16. November entschieden, dass die Probleme bei den Berlin-Wahlen vom 26. September 2021 so gravierend waren, dass sie in allen Wahllokalen im gesamten Stadtgebiet zu wiederholen sind. Das Komplettprogramm also. Alles auf Anfang.

Mit ihrer Entscheidung seien die Landesverfassungsrichter »über das mit dem Verfahren der Wahlprüfung verfolgte legitime Ziel weit hinausgeschossen«, heißt es nun in der bei den Bundesverfassungsrichtern eingelegten Beschwerde. Denn: »In einem demokratischen Rechtsstaat kann die (Gesamt-)Auflösung eines Parlaments durch die Judikative nur als allerletztes Mittel gerechtfertigt sein. Für den Gebrauch dieses Mittels lagen in Berlin weder in tatsächlicher noch in verfassungsrechtlicher Hinsicht die Voraussetzungen vor.«

Das Berliner Gericht habe im Grunde unsauber gearbeitet und die Wahl auf Basis von »Unterstellungen, Schätzungen und Vermutungen« für insgesamt ungültig erklärt, obwohl es in der überwiegenden Mehrheit der mehr als 2200 Wahllokale keineswegs zu eklatanten Wahlfehlern gekommen sei, die auch dort eine Wiederholung rechtfertigen würden. So die Hauptbotschaft der rund 250-seitigen Beschwerde, die »nd« vorliegt. Zuerst hatte der »Tagesspiegel« berichtet.

Für Beobachter durchaus überraschend, wurde die Klage in Karlsruhe nicht sofort abgelehnt. Vielmehr hat man sich jetzt in einem Schreiben an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses Dennis Buchner (SPD) gewandt, er möge allen Abgeordneten die Möglichkeit einräumen, bis zum 10. Januar eine Stellungnahme zu der Beschwerde abzugeben, bestätigt ein Sprecher des Landesparlaments. Erst danach wird entschieden, ob die Beschwerde angenommen wird.

Die diesbezüglichen Chancen werden als eher durchwachsen eingestuft. Aber im Zusammenhang mit der Berlin-Wahl sind Überraschungen bekanntlich auch nicht auszuschließen. Klar ist: Sollte die Beschwerde wirklich angenommen werden, droht der 12. Februar als Wahltermin gefährlich ins Wanken zu geraten.

Bemerkenswert ist bei alldem die Zusammensetzung der Beschwerdeführer. So klagen acht Abgeordnete der SPD-, FDP- und Linksfraktion des Abgeordnetenhauses, dazu 15 Mitglieder verschiedener Bezirksverordnetenversammlungen, insbesondere aus den kaum von Wahlpannen betroffenen Bezirken Treptow-Köpenick und Lichtenberg und – neben einem Grünen – ebenfalls von SPD, FDP und Die Linke.

Moheb Shafaqyar, Bezirksverordneter der Linken in Friedrichshain-Kreuzberg und aktiv in der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen, ist hier ebenso mit an Bord wie Stefan Förster von der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus, für den das Projekt Vergesellschaftung von Wohnungsbeständen – salopp formuliert – kommunistisches Teufelszeug ist.

»Ja, das ist eine interessante Konstellation«, sagt einer der Kläger zu »nd«. Namentlich genannt werden möchte er nicht. Das sei untereinander so verabredet worden. Wie man sich überhaupt erst einmal ein weitgehendes Stillschweigen gegenüber der Öffentlichkeit auferlegt habe, bis Karlsruhe über eine Annahme entschieden hat. Tatsächlich halten sich auch fast alle strikt an die Abmachung.

Einzige Ausnahme: Lichtenbergs SPD-Stadtrat für Stadtentwicklung, Kevin Hönicke. »Da in Lichtenberg die Wahl 2021 gut funktioniert hat, kann ich nicht nachvollziehen, dass die Wahl in allen Bezirken komplett wiederholt werden soll«, erklärte der ebenfalls klagende Hönicke munter und namentlich der Boulevardzeitung »B.Z.« Sozusagen getreu seinem Twitter-Motto »Einfach machen«. Auch Hönicke liegt für gewöhnlich über Kreuz mit der Linken. Der Ärger über das Pauschalurteil der Verfassungsrichter schweißt ausnahmsweise zusammen.

Der Inhalt der Verfassungsbeschwerde selbst ist starker juristischer Tobak. Die Beschwerdeführer stellen dabei nicht in Abrede, dass es beim Wahlablauf im September 2021 »zahlreiche Unregelmäßigkeiten gab«. Die Frage sei eben nur, wo dies konkret der Fall gewesen sei und wo nicht – ein Nachweis, den das Landesverfassungsgericht nicht überzeugend habe erbringen können.

So habe sich das Gericht eines »Kunstgriffs« bedient, um zu dem Urteil zu kommen, dass damals »weit über 18 Uhr hinaus und flächendeckend Wahlhandlungen« ermöglicht worden seien. Außerdem sei die Anzahl falscher Stimmzettel einfach geschätzt worden; für die Feststellung, es sei zu »erheblichen Wartezeiten« gekommen, fehle der konkrete Nachweis, wichtige Zeugenvernehmungen habe man unterlassen. Die Liste der Vorwürfe ist lang.

Wie es in der Beschwerde heißt, habe der Landesverfassungsgerichtshof die Wahlen unter »Außerachtlassung der in der (bundes-)verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Wahlprüfung und unter Verzicht auf eine hinreichende Sachverhaltsaufklärung« für ungültig erklärt und den Weg für die Wiederholungswahlen frei gemacht.

Unterm Strich bestehe dadurch »die Gefahr, dass am 12. Februar 2023 eine Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen durchgeführt wird, die sich im Nachhinein als verfassungswidrig erweist« – und eben erneut für ungültig erklärt werden müsste. »Der damit einhergehende Schaden für die Demokratie wäre erheblich.« Daher auch der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem die Wahl in sechs Wochen verhindert werden soll.

Dass der Bundesverfassungsgerichtshof die Beschwerde samt Antrag nicht umgehend abgeschmettert, sondern in dieser Woche zunächst um Stellungnahmen gebeten hat, sorgt im politischen Berlin für Nervosität, mehr noch aber für Verärgerung, verständlicherweise. Schließlich stecken die Parteien schon jetzt Unsummen in den Wahlkampf, ab Montag darf flächendeckend plakatiert werden.

Nur die oppositionelle CDU nutzte zugleich die Gunst der Stunde, um ordentlich auszuteilen. So sprach Landes-Generalsekretär Stefan Evers angesichts des Umstands, dass sich unter den Beschwerdeführern in großer Zahl Politiker von SPD, Linke und FDP befinden, von einer »spannenden Verhinderungskoalition«, die die Wiederholungswahlen stoppen wolle. Der Regierenden Bürgermeisterin und SPD-Landeschefin Franziska Giffey hielt er dabei vor, dass sie doch zugesagt habe, das Urteil zu akzeptieren. Aber, so Evers: »Sie hat den Laden ja auch sonst nicht im Griff.«

Jetzt mal halblang, heißt es aus der SPD. »Partei und Fraktion haben nicht geklagt. Allerdings respektieren wir sowohl unseren Rechtsstaat als auch die Rechte der gewählten Amts- und Mandatsträger sowie der Wählerinnen und Wähler«, teilt Torsten Schneider, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, auf nd-Nachfrage mit. Daher habe es selbstverständlich auch keine »Stallorder« für einzelne Abgeordnete gegeben.

Bei der Linke-Spitze herrscht da schon größeres Unverständnis ob der Beteiligung der eigenen Mandatsträger am Gang nach Karlsruhe. Das sei nicht abgestimmt gewesen, heißt es aus den Reihen des Landesvorstands. Vielmehr habe man sich im Vorfeld darauf geeinigt, etwaige Schritte im Zusammenhang mit dem Urteil der Berliner Richter abzusprechen. Das sei nicht geschehen und daher mehr als ärgerlich.

Dass die Parteispitze selbst nicht gerade glücklich damit ist, dass die Wahl vom vergangenen September wiederholt werden muss, ist kein Geheimnis. Der Wahlkampf kostet die finanziell nicht eben auf Rosen gebettete Berliner Linke über 700.000 Euro. Zudem liegt die Partei in aktuellen Umfragen – was auch immer man darauf gibt – mit 11 bis 13 Prozent unter ihrem Wahlergebnis von 2021, als sie 14,1 Prozent holte. Die Wahl könnte, allem Optimismus zum Trotz, also auch mit Mandatverlusten einhergehen. »Trotzdem haben wir immer gesagt, dass wir die Entscheidung des Landesverfassungsgerichtshofs akzeptieren werden, ob es uns gefällt oder nicht«, sagt ein Mitglied des Landesvorstands zu »nd«.

Gänzlich unbeeindruckt gibt sich dagegen der Stab um Landeswahlleiter Stephan Bröchler. »Für die Organisation der Wahlen am 12. Februar 2023 ergeben sich aus der Verfassungsbeschwerde bis zu einer möglichen Entscheidung des Gerichts keine Konsequenzen«, teilt man mit. »Die Vorbereitungen werden deshalb unvermindert fortgesetzt.« Der Termin im Briefwahlzentrum in Zehlendorf steht also.

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