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Frischer Wind im Ratssaal
Stadtrat mit 18, Bürgermeisterin mit 28 Jahren: Auch junge Menschen übernehmen politische Ehrenämter in Sachsens Kommunen
Am Anfang stand für Stephanie Rikl erst einmal nur ein einzelnes Freiwilliges Jahr in der Politik. 2011 kam die junge Frau aus der Nähe von Leipzig dafür nach Ostritz, in eine Kleinstadt mit 2300 Einwohnern im östlichsten Zipfel von Sachsen. Am Grenzfluss Neiße zwischen Görlitz und Zittau liegt dort das Kloster St. Marienthal, in dem es neben einer Gemeinschaft von Zisterzienserinnen seit 30 Jahren auch ein Internationales Begegnungszentrum gibt. Rikl war dort in einem Projekt namens »Arsch hoch 2.0« tätig, das Schüler zu politischer Beteiligung ermuntern wollte. Die deftige Aufforderung nahm sie offenbar auch selbst ernst: Sie hat sich mittlerweile für sieben freiwillige Jahre in der Kommunalpolitik von Ostritz verpflichtet. Im Juni 2022 wurde sie mit gerade einmal 28 Jahren zur Bürgermeisterin gewählt, seit August ist sie im Amt. Sie übt es im Ehrenamt aus, obwohl es Arbeit für weit mehr als 40 Wochenstunden gibt: »Das ist ein Vollzeitjob.«
Kommunalpolitik ist in Sachsen und anderswo in Deutschland eigentlich eine Domäne von älteren Menschen, meist Männern. Das gilt besonders für Ehrenämter: in Gemeinde- und Stadträten, Kreistagen oder als Bürgermeister kleiner Gemeinden. Die Statistiken lassen das Ausmaß dabei nur erahnen. Nach Angaben des Freiwilligensurveys, der im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend alle fünf Jahre erstellt wird, waren 2019 knapp drei Prozent der Bevölkerung freiwillig engagiert im Bereich Politik und politische Interessenvertretung. Der Anteil der Männer war mehr als doppelt so hoch wie jener der Frauen. Über die Altersklassen hinweg sind die Differenzen aber auf dem Papier nicht gravierend: Bei den 14- bis 29-Jährigen wie den Über-65-Jährigen liegt der Anteil der Menschen mit Politik-Ehrenamt bei 2,8 Prozent; unter den 50- bis 64-Jährigen sind es 3,4 Prozent.
Beim Blick in die Ratssäle zeigt sich ein anderes Bild. Im Stadtrat von Sebnitz, einer Kleinstadt in der Sächsischen Schweiz, säßen »vor allem ältere Menschen«, sagt Paul Löser, der im Mai 2019 bei der Kommunalwahl für die Grünen in das Gremium gewählt wurde. Elise Grobe, die im März 2021 als Nachrückerin für eine ausgeschiedene Abgeordnete der Linken in den Stadtrat von Limbach-Oberfrohna einzog, nennt ihr Alter als Hauptgrund dafür, dass sie vor der Wahl von Genossen überhaupt um eine Kandidatur gebeten wurde: »Man freute sich ja schon, wenn jemand unter 60 zur Wahl antritt.«
Dabei ist sie mit 31 Jahren schon deutlich lebenserfahrener als Paul Löser. Er hat die erste Chance überhaupt genutzt, sich um ein Mandat zu bewerben. In Sachsens Kommunen gilt das Wahlalter 18. Viele Menschen in dem Alter üben ihr aktives Stimmrecht auch aus, nur wenige jedoch streben selbst ein Mandat in einem Stadt- oder Gemeinderat an. Löser, der kurz vor der Wahl 2019 gerade erst volljährig geworden war, entschloss sich dazu. Ein Auslöser waren die politischen Proteste der Klimaschutzbewegung Fridays for Future: »Das hat mich politisiert.« Er organisierte im März 2019 eine FFF-Demo in Sebnitz, die einzige im gesamten Landkreis. Weil er mit einem im Naturschutz tätigen Vater gewissermaßen familiär vorbelastet ist, trat er zudem den Grünen bei. Danach wollte er seine politischen Anliegen auch in den Stadtrat tragen – und außerdem zu dessen Verjüngung beitragen: »Meine Generation ist dort ja völlig unterrepräsentiert.« Er überzeugte genügend Wähler, wurde der jüngste je gewählte Stadtrat in Sebnitz und war nach über 25 Jahren auch der erste Grüne in dem Gremium.
Elisa Grobe dagegen zog es nicht sehr vehement in die Stadtpolitik. »Unser Verhältnis dazu ist eher distanziert«, sagt sie für sich und ihre Mitstreiter, mit denen sie 2007 den Verein »Soziale und politische Bildungsvereinigung« gründete. Er sanierte und betrieb ein Haus in der Dorotheenstraße am Rand der ehemaligen Textilstadt als selbstverwaltetes Jugendzentrum. Der rechtsextremen Szene war die »Doro 40« indes ein Dorn im Auge: 2010 zündeten Nazis das Haus an. Aber auch in der Kommune stieß das Engagement der jungen, bunten Truppe teils auf Ablehnung. Mancher Stadtrat sah das Problem der Kommune nicht in der starken Naziszene, sondern in Jugendlichen, die darauf aufmerksam machten und sich wehrten. Sie blieben deshalb auf Abstand zur Kommunalpolitik – bis 2019, als Grobe zur Kandidatur ermutigt wurde. Vielleicht, sagte sie sich, »können wir das Mandat nutzen für unsere Anliegen«: mehr Unterstützung für eine vielfältige Jugendarbeit und Engagement für eine weltoffene Stadt.
Stephanie Rikl wurde ebenfalls um eine Kandidatur gebeten, nachdem ihre Amtsvorgängerin im Rathaus nach 14 Jahren nicht mehr kandidierte. Rikl war nach dem Freiwilligen Jahr in Ostsachsen geblieben, lebte zunächst in Görlitz, wo sie Mitarbeiterin einer städtischen Kulturgesellschaft war, und zog im Jahr 2019 in einen Ortsteil von Ostritz – mit ihrem dort gebürtigen Mann und ihrem Kind. In Vereinen und der Kirchgemeinde sei sie gut integriert, sagt sie von sich; zudem werde ihr eine offene und ehrliche Art attestiert. Als sie aber unter anderem von ihrem einstigen Mentor im Begegnungszentrum zum kommunalpolitischen Engagement ermuntert wurde, zögerte sie dennoch zunächst. Das Amt als Bürgermeisterin sei »schon eine Hausnummer«, sagte sie und beschied, man könne sie ja »in sieben Jahren nochmal fragen«. Schließlich lenkte Rikl doch ein. Sie wurde bei ihrer Kandidatur von Freien Wählern und CDU unterstützt und setzte sich als Neuling mit immerhin 76 Prozent gegen einen örtlichen Immobilienunternehmer und Stadtrat durch.
Nun sitzt sie im Rathaus mit seiner Stuckfassade unter historischen Fotos von Ehrenbürgern und schildert ihren Arbeitsalltag: Dienstberatungen mit Ämtern, Termine in Zweckverbänden und Gremien, Gespräche mit Bürgern, Unternehmern, Vereinsvorständen. Ihr vergleichsweise jugendliches Alter sei dabei selten ein Thema. Fast amüsiert schildert sie ihre Beobachtung, wonach ihr mit dem Amt auch »eine gewisse Autorität« zuzuwachsen scheine. Wirklich einzigartig sei eine Rathauschefin von unter 30 Jahren ohnehin nicht. Das bundesweite »Netzwerk Junge Bürgermeister«, in dem sich Rikl engagiert, verweist auf eine ehrenamtliche Amtskollegin in Thüringen, die Jahrgang 1998 sei – noch vier Jahre jünger als Rikl. Die jüngste hauptamtliche Bürgermeisterin Deutschlands wurde nach Angaben des Netzwerks im August 1996 geboren.
Die Probleme, vor denen Rikl in ihrem Amt steht, unterscheiden sich ohnehin nicht von denen ihrer älteren Amtskollegen: Sie muss sich um die Aufstellung des Stadthaushalts kümmern, um Lärmgutachten für Windräder, die Regularien bei der Versteigerung leer stehender Immobilien und nicht zuletzt um Ideen für die Zukunft des Ortes. Abends wollen sich Vereine mit ihr austauschen, am Wochenende wird sie auf Bürgerfesten erwartet. Das Familienleben ist nur in guter Absprache mit ihrem Mann zu organisieren. Die anfängliche Idee, einen Wochentag zu Hause zum Einlesen in Unterlagen zu nutzen, musste sie schnell aufgeben. Im Fall eines Bürgermeisterpostens ist »ehrenamtlich« nicht mit »nebenberuflich« gleichzusetzen: »Diese Tätigkeit und einen zweiten Job«, sagt Rikl, »könnte ich nicht unter einen Hut bringen.«
Für all diese Arbeit erhält sie eine Entschädigung für ehrenamtliche Bürgermeister. Wäre sie im Hauptamt tätig, würde sie verbeamtet und erhielte mehr als das Doppelte. Auch bestünde Anspruch auf Beihilfe in Krankheitsfällen und Ruhegehalt. Lange Zeit gab es in Sachsen keine Wahl: Laut Kommunalrecht mussten Kommunen mit unter 5000 Einwohnern ehrenamtlich geführt werden. Seit einer Gesetzesnovelle im Februar 2022 ist nun die Hauptamtlichkeit vorgeschrieben; Kommunen dürfen aber unter bestimmten Voraussetzungen weiter am Ehrenamt festhalten. Dabei sei nicht zuletzt »die finanzielle Leistungsfähigkeit der Gemeinde zu berücksichtigen«, erklärt das Innenministerium. Der Beamtensold ist schließlich aus dem Stadtsäckel zu bestreiten.
In Ostritz kam der Stadtrat zum Schluss, dass dafür kein Geld da ist. Die neue Verwaltungschefin Rikl bestätigt, dass die finanzielle Lage nicht rosig ist. Ostritz erklärte sich zwar Ende der 1990er Jahre zur »energie-ökologischen Modellstadt«, schaffte es aber nicht, auch entsprechende Firmen anzusiedeln, die Jobs schaffen und Steuern zahlen. So fehlen Einnahmen. Gleichzeitig steigen die Personalkosten durch höhere Tarifabschlüsse, Strom und Gas wurden teurer, die Kreisumlage frisst Zuweisungen vom Land praktisch auf. Man werde um Kürzungen nicht herumkommen, sagt die Bürgermeisterin. Genug Geld, damit sie ihren Job im Hauptamt erledigen kann, ist vorerst nicht vorhanden. Rikl hadert damit nicht: Die Arbeit, sagt sie, sei ihr »eine Freude«. Und mit dem Geld, das sie erhält, kommt sie erst einmal hin.
Auch andernorts erfüllen sich bei den jungen Engagierten in der Kommunalpolitik längst nicht alle Hoffnungen. Elisa Grobe etwa empfindet die Arbeit als Stadträtin in Limbach-Oberfrohna als eher schwierig. Nicht wenige der im Stadtrat verhandelten Themen wie Bauvorhaben und Verkehrsprojekte seien spröde. Für ihr politisches Kernthema Jugendarbeit wiederum gibt es in dem von älteren Männern dominierten Stadtrat wenig Interesse. »Es wird an viele Gruppen gedacht, an Kinder zum Beispiel oder an Rentner«, sagt Grobe, »aber die Jugend wird vergessen.« Zudem herrsche in der Kleinstadt eine sehr traditionelle Vorstellung davon, wie Jugendliche zu sein hätten. In einem Jugendbeirat, den es in der Stadt gibt, sitzen junge Menschen, die schon in Parteien aktiv sind. »Sie sieht man als die guten Jugendlichen an«, sagt Grobe: »Was wir machen, ist dagegen nicht das, was man sich im Rathaus unter Jugendarbeit vorstellt.«
Zudem sei das politische Klima im Stadtrat wenig ermutigend. In dem Gremium haben bürgerlich-konservative und rechte Parteien – Freie Wähler, CDU, FDP und AfD – zusammen 22 Sitze, die Fraktion aus Linke, SPD und Grünen zählt vier Abgeordnete. Entsprechend zermürbend ist die Arbeit. So wurde ein Antrag, der Grobe wichtig war und vorsah, vier Stolpersteine für Opfer der NS-Diktatur in der Stadt zu verlegen, nach langem Hin und Her verworfen, weil zwei der zu Ehrenden Kommunisten waren: »Da ließ man dann lieber doch die Finger davon.« Grundsätzlich vermisst Grobe eine klare Abgrenzung gegen rechts in der Stadtpolitik: »Man will keine Positionen beziehen, mit denen man anecken könnte.«
Auch bei Paul Löser erhielt der Enthusiasmus, mit dem er sein Amt antrat, bald Dämpfer. »Die ersten Sitzungen waren desillusionierend«, sagt er: »Natur- und Klimaschutz spielten in der Kommunalpolitik in Sebnitz kaum eine Rolle.« Manchem älteren Stadtrat galt er auch wegen seines Alters anfangs als zu »grün«. Und seine Möglichkeiten waren als Einzelkämpfer begrenzt; Anträge etwa können nur Fraktionen stellen, die aus mindestens drei Mitgliedern bestehen mussten: »So viele mir politisch Nahestehende gibt es bei uns nicht.« Erst eine Novelle des Kommunalrechts im Februar 2022 senkte die Zahl auf zwei. Danach schloss sich Löser mit einem Stadtrat der Linken zusammen und konnte seither sogar zwei Anträge durchbringen.
Löser empfindet das Amt als anspruchsvoll und fordernd; 15 Stunden im Monat müsse er für die Sitzungen, das Einarbeiten in Vorlagen und Anträge, Öffentlichkeits- und Parteiarbeit sowie Bürgerkontakt einplanen. Als Aufwandsentschädigung erhält er 80 Euro. »Das liegt weit unter dem Mindestlohn«, sagt er augenzwinkernd, fügt aber ernster hinzu: »Ein solches Ehrenamt auszuüben, muss man sich leisten können.« In seinem Fall kommt erschwerend hinzu, dass er kurz nach der Wahl ein Studium aufnahm. Weil ihn das Amt für die Dauer der fünfjährigen Wahlperiode an die Gemeinde bindet, war die Auswahl an Studienorten begrenzt: »Ich konnte nicht in die große weite Welt ziehen.« Nun studiert er Lehramt in Dresden und ist meist einmal pro Woche in Sebnitz. »Etwas Abstand zu haben und Impulse von außen zu bekommen, ist ein Vorteil«, sagt er. Zugleich habe das Amt die »Bindung an meine Heimatstadt« verstärkt. Die Drähte dorthin sind zum Glück kurz. Noch kürzer wären sie, wenn es ein digitales Ratsinformationssystem gäbe. Das ist freilich noch Zukunftsmusik.
Vielleicht wäre das ein Vorhaben für eine zweite Wahlperiode. Die strebt Löser an: »Ich hätte Lust weiterzumachen.« Nach Abschluss des Studiums möchte er als Lehrer nach Sebnitz zurückkehren. Sein größtes politisches Ziel für die erste Amtsperiode wäre, mehr Jugendbeteiligung zu erreichen: »Es wäre das Größte, wenn das bis zur Wahl durchzusetzen wäre«, sagt er. Schon aus Altersgründen wäre das von Vorteil. Wenn 2024 gewählt wird, ist Paul Löser schließlich schon fast ein alter Hase. Elisa Grobe dagegen ist sich nicht sicher, ob sie ihre Zeit und Kraft weiter für die Mühen der Stadtpolitik aufwenden will. Sie spricht von einer »gewissen Ernüchterung« und bekennt, sie sei noch nicht sicher, ob sie 2024 wieder antritt. Einen Sinneswandel könnte bewirken, wenn es gelänge, eine »coole Liste voller junger Leute aufzustellen«. Mit einigen Gleichgesinnten für die zähe Ratsarbeit, sagt sie, »wäre es vielleicht noch einen Versuch wert.«
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