Tüftler, Bastler, Körperkünstler

In der Reihe »Play« gibt das Chamäleon-Theater einen Ausblick auf die Vielfalt im zeitgenössischen Zirkus

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 6 Min.
Die argentinische Compagnie »Un Poyo Rojo« bringt einen Mix aus Tanz, Theater und Zirkus auf die Bühne.
Die argentinische Compagnie »Un Poyo Rojo« bringt einen Mix aus Tanz, Theater und Zirkus auf die Bühne.

Der zeitgenössische Zirkus ist auch ein Eldorado für Bastler. Die beiden Jongleure Jonas Schiffauer und Alex Allison jedenfalls haben sich mittlerweile einige Kenntnisse im Tunen von Laufbändern aus Fitnessstudios angeeignet. In ihrer Show »Runners« sieht man Allison und Schiffauer auf Laufbändern mal locker joggen, mal aber auch regelrecht rasen. Stets werfen sie Bälle in die Luft. Mal senkrecht in die Höhe, wie es sich für Jongleure gehört. Mal schießen sie sich in einer Art Duellmodus aber auch gegenseitig ab.

»Wir haben uns ursprünglich in einer Clownsschule auf Ibiza kennengelernt. Ein paar Jahre später trafen wir uns beim Jonglieren in Brüssel wieder. Da haben wir gedacht, wir sollten ein Stück entwickeln, in dem Humor eine Rolle spielt«, blickt Schiffauer zurück. Mit diesen Intentionen gründeten sie ihre Compagnie Hippana.Maleta. Als Vehikel für Slapstickeinlagen tauchten schließlich die Laufbänder am Horizont auf. Die waren aber gewaltig schwer – 240 Kilo wiegt eines – und damit völlig ungeeignet für den Tourneebetrieb. Also waren mechanische Fertigkeiten gefragt. »Zweieinhalb Jahre haben wir uns damit beschäftigt, Laufbänder aufzuschrauben und umzubauen. Wir haben Teile ausgetauscht, manches komplett entfernt und auch gelernt, sie zu reparieren. Vor allem haben wir die Motoren für die vertikale Bewegung entfernt«, erzählt Schiffauer.

Jetzt sind die Geräte gut transportabel. Sie laufen wie Förderbänder. Und als solche werden sie auch eingesetzt. Denn in »Runners« machen Schiffauer und Allison nicht nur drollige Verknüpfungen von horizontalen Laufbewegungen und senkrechten Wurfaktionen. Sie erzählen auch die komplette Menschheitsgeschichte vom gebückten Laufen über den geraden Gang bis hin zum Industriezeitalter mit mechanischen Arbeitsbewegungen an Fließbändern nach.

»Runners«, das vom 17. bis 19. Januar gezeigt wird, ist ein Paradebeispiel für die Kunst des zeitgenössischen Zirkus. Deren Protagonisten setzen traditionelle Künste wie Jonglage, Luftartistik oder Körperakrobatik ein, um komplette Geschichten zu erzählen. Die können mal komisch, mal tragisch, mal melancholisch, oft auch ein Gemisch aus mehreren Stimmungen sein.

Weil bei »Runners« diese Verbindung aus Tradition und Innovation besonders gut gelingt, gehört die Show auch zum neuen Programmfenster »Play« des Chamäleons. »Wir haben schon lange den Wunsch, mehr Vielfalt zeigen zu wollen und nicht nur zwei Programme im Jahr. Unsere Ressourcen sind aber begrenzt. Mehr als zwei Umbaupausen im Jahr können wir uns finanziell nicht leisten«, erzählt Anke Politz, langjährige Intendantin des Theaterhauses in den Hackeschen Höfen.

Einen neuen Gedanken brachte ausgerechnet die Pandemie. »2020 gab es ja sehr strenge Hygiene-Auflagen. Niemand durfte ohne Maske auf der Bühne arbeiten oder nur Leute, die aus einem Haushalt kommen. Weil wir unbedingt wieder anfangen wollten zu spielen, haben wir nach Gastspielen Ausschau gehalten, die genau solchen Bedingungen entsprachen«, erzählt sie. So kam der Fokus auf Solostücke und Duette zustande, die bislang in den Halbjahresprogrammen des Chamäleons keine Chance hatten.

»Play« ist jetzt eine spannende Mischung aus Kultstücken des zeitgenössischen Zirkus wie etwa »Un Poyo Rojo« der gleichnamigen argentinischen Compagnie (26. bis 29. Januar) und zahlreichen neuen Produktionen, bei denen nicht nur verschiedene Zirkusdisziplinen miteinander verknüpft, sondern auch Grenzen zu den benachbarten Künsten Tanz und Theater überschritten werden.

Ein Hybrid aus Puppentheater, Installationskunst und Luftartistik ist »Wir wollen nie nie nie« der Berliner Compagnie Raum 305. Der Trapezkünstler Moritz Haase und der Puppenspieler Jarnoth befreien sich zunächst aus einer engen Treppe. Während Jarnoth als kleineres Alter-Ego noch eine Puppe mit sich führt und sie bewegt, erobert Haase mit seinen Luftakrobatikkünsten die Höhe. Der Abend zeichnet sich durch eine geradezu meditative Stimmung aus (20. bis 22. Januar).

Das komplette Gegenteil, nämlich frenetische Bewegung von Körperteilen und Objekten, bietet Wes Pedens Jonglage-Orgie »Rollercoaster«. Zwischen Bühnenelementen, die an Konstruktionsteile von Achterbahnen erinnern, hält Peden Unmengen von Bällen, Ringen und Keulen in der Luft. Er variiert dabei Bewegungsformen, nutzt seinen Körper und auch die Bühnenelemente als Abprallstationen für seine Flugobjekte (13. bis 15. Januar).

Handelt es sich bei »Rollercoaster«, »Wir wollen nie nie nie« und auch »Runners« um noch sehr junge Produktionen aus den letzten beiden Jahren, so ist das Eröffnungsstück »A Simple Space« schon fast eine Dekade lang auf internationalen Festivals unterwegs. Es ist bereits das dritte Stück der australischen Compagnie Gravity & Other Myths, das im Chamäleon zu Gast ist. Es wird aber von anderen Performern als jenen gespielt, die bis Ende des Jahres in »Out of Chaos« auftraten. Die Truppe hat mehrere Crews, die parallel Vorstellungen in aller Welt zeigen.

Auch das ist ein Betriebsmodell im zeitgenössischen Zirkus. »Wir haben in Australien so lange in unserer Blase gesteckt, und es ist auch so teuer, von dort nach Europa zu kommen. Aber die verrückten Dinge, die für Europäer vielleicht exotisch sind, bringen wir gern dorthin«, erzählt Alyssa Moore. Die Australierin fliegt in »A Simple Space« vor allem durch die Lüfte und krönt die gewaltigen Körperpyramiden ganz oben in der dritten Etage. Ein großer Teil der Trainingsarbeit besteht für sie paradoxerweise nicht darin, wie sie besser fliegen kann, sondern wie sie besser fällt und von ihren Kolleg*innen aufgefangen werden kann. »Fallen und Aufgefangenwerden ist eigentlich das Wichtigste. Die Botschaft ist: Ich bin da für dich und ich fange dich. Das ist auch der Kern von ›A Simple Space‹«, erzählt Moores Kollege Kevin Beverley.

Die Show besteht tatsächlich aus sehr vielen Variationen, wie Menschen aufgefangen werden können: mit den Händen, an Hand- und Fußgelenken. Auf Bauch und Rücken, die mal waagerecht, mal diagonal als Landefläche angeboten werden, auf Oberschenkeln, Unterarmen und den Schultern.

Mit seiner Ensemblegröße von sieben Akrobat*innen und einem Musiker ist »A Simple Space« untypisch für die meist aus Soli und Duetten bestehende »Play«-Reihe. Mit Gravity & Other Myths verbindet das Chamäleon aber eine längere Zusammenarbeit. Teile der Compagnie waren von August bis Dezember 2022 hier und entwickelten die gemeinsame Produktion »Mirror«.

Die »Play«-Reihe will Chamäleon-Chefin Politz in Zukunft zu einem weiteren Baustein eines ganzen Produktionsuniversums für den zeitgenössischen Zirkus ausbauen. Basis dafür sind Residenzprogramme für Künstler*innen. Als frühe Showplattform bietet sich »Play« an, bevor es dann für die großen und ausgereiften Programme die mehrmonatigen Slots in der Hauptspielzeit gibt. Das wirkt durchdacht und auch fürs Publikum attraktiv.

3. Januar bis 12. Februar, Chamäleon-Theater, Rosenthaler Str. 40/41, 10178 Berlin.

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