»Sichtbaren Widerstand gibt es nicht«

Kıvanç Eliaçık über wachsende Unzufriedenheit und eingeschränkte Protestmöglichkeiten in der Türkei

  • Svenja Huck
  • Lesedauer: 6 Min.

In der Türkei wurde Ende Dezember die Mindestlohnerhöhung bekannt gegeben, die ab Januar 2023 in Kraft tritt. Von aktuell 5500 Lira netto (275 Euro) soll er auf 8500 Lira steigen. Kann man von diesem Lohn leben?

Betrachtet man die Erhöhung des Mindestlohns im Vergleich zum Januar 2022, sehen wir eine fast 100-prozentige Steigerung. Das sieht als Zahl erst einmal nach viel aus und mag auch ungewöhnlich klingen aus europäischer Perspektive. Doch wenn wir uns die Preisentwicklung in der Türkei anschauen, ist diese Erhöhung ziemlich unwirksam. Hier ändern sich die Preise wöchentlich, seien es Lebensmittel, die Miete oder die Preise für Energie. Was ich heute im Restaurant bezahle, ist in ein paar Tagen nicht mehr gültig. Deshalb hat auch ein großer Teil der Bevölkerung eher verhalten auf die Erhöhung reagiert.

Interview


Kıvanç Eliaçık ist Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen in der progressiven Gewerkschaftskonföderation DİSK in der Türkei. Im Interview erklärt er die Auswirkungen der Mindestlohnerhöhung für die Arbeiter*innen in der Türkei.

Wie wird formell über die Höhe des Mindestlohns entschieden?

In der Kommission sitzen Vertreter*innen des Ministeriums für Arbeit, des Arbeitgeberverbandes TİSK und der größten Gewerkschaftskonföderation Türk-İş. Sie treffen sich, debattieren und kommen dann zu einer Entscheidung. Doch dieses Mal war es anders. Plötzlich fand ein Treffen zwischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dem Ministerium und den Arbeitgebervertretern statt. Die Gewerkschaften waren ausgeschlossen. Anschließend verkündeten sie ihre Entscheidung in einer Pressekundgebung. Das entspricht nicht den Gesetzen der Türkei. Es zeigt aber erneut, dass Entscheidungen aus dem Palast über allem stehen. Hinzu kommt, dass bisher auch noch kein Amtsblatt publiziert wurde. Formell gibt es demnach noch gar keine Lohnerhöhung.

Wie groß ist der Anteil der Bevölkerung, der den Mindestlohn bezieht?

In der Türkei ist es leider so, dass viele der Arbeitsmarktstatistiken nicht die Wirklichkeit widerspiegeln. Um weniger Steuern und Versicherung zu zahlen, zeigen viele Arbeitgeber an, nur den Mindestlohn zu zahlen, beispielsweise auch an gut ausgebildete Ingenieure. Den Rest zahlen sie dann in bar aus. Andere Arbeiter*innen wiederum bekommen den Mindestlohn überwiesen, müssen dann aber wieder einen Teil zurückgeben. Deshalb ist der Mindestlohn eher ein Durchschnittslohn in der Türkei.

Was sind die größten finanziellen Belastungen und wie versuchen die Menschen, bis zum Ende des Monats zu kommen?

Die Mieten steigen extrem. Wer aktuell für eine Wohnung 3000 Lira zahlt, aber aus irgendeinem Grund umziehen muss, der zahlt nach dem Umzug das Dreifache. Zwar steigt langsam die Zahl der Familien, in denen auch Frauen arbeiten, es gibt also zwei Verdienende. Aber wer drei Kinder und vielleicht noch einen zu pflegenden Angehörigen hat, kommt trotzdem nicht über die Runden. Also teilen sie ihre Wohnungen, in einem Apartment wohnen zwei oder drei Familien zusammen. Da auch die Lebensmittelpreise steigen, lassen die Menschen Mahlzeiten ausfallen. Letztens erzählte ein befreundeter Lehrer, dass Schüler*innen hungrig zur Schule kommen und dort in Ohnmacht fallen. Und zuletzt stiegen auch die Preise für die eigene Gesundheitsversorgung. In den staatlichen Krankenhäusern bekommt man keine Termine, also geht man in ein Privatkrankenhaus. Die sind teuer und auf der Arbeit muss man sich beurlauben lassen. Dieser freie Tag wird vom Lohn abgezogen, den man bräuchte, um die Krankenhausrechnung zu bezahlen.

Die von Ihnen beschriebene Situation klingt mehr als dramatisch. Bildet sich denn Widerstand gegen diese Zustände?

Natürlich herrscht Unzufriedenheit, aber einen sichtbaren Widerstand gibt es bisher nicht. Um das zu erkennen, muss man kein Gewerkschafter sein. In der Vergangenheit gab es immer wieder spontan aufkommenden Protest und das kann auch wieder passieren. Für die Gewerkschaften war unser Mittel öffentlichkeitswirksamer Massenprotest. Doch seit dem Anschlag am 10. Oktober 2015 in Ankara findet der kaum mehr statt. Hinzu kam die Pandemie. Stattdessen gibt es nun mehr Aktionen direkt in und vor den Betrieben statt zentrale Kundgebungen. Schauen wir uns die Teilnehmer*innenzahlen an, erreichen wir dadurch unterm Strich sogar mehr Menschen und wir können auch mit unseren Mitgliedern direkter kommunizieren. Nicht nur bei den Beschäftigten gibt es Unmut, sondern auch unter den kleinen und mittleren Gewerbetreibenden, einem wichtigen Teil der Wählerbasis von Erdoğans AKP. Sie sind meist in der Innenstadt angesiedelt. Sie sehen auf ihrer täglichen Abrechnung, wie schlecht die wirtschaftliche Lage ist.

Wie entwickelt sich die Anzahl der gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen?

In der Türkei gibt es eine Lücke zwischen der Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder und der Zahl derjenigen, die einen Tarifvertrag haben. In Europa ist es andersrum. Da gibt es in Frankreich beispielsweise weniger Gewerkschaftsmitglieder, aber der Tarifvertrag gilt für eine große Menge an Beschäftigten, auch für Nicht-Organisierte. Dass das in der Türkei anders ist, liegt an den massiven Hürden, die eine türkische Gewerkschaft überwinden muss, um Kollektivverhandlungen führen zu dürfen. Aber das Interesse an Gewerkschaften und die Zahl an Protesten am Arbeitsplatz steigt hierzulande. Auch wenn diese Kolleg*innen keine offiziellen Gewerkschaftsmitglieder sind, handelt es sich um wichtige Aktionen der Arbeiter*innen.

Deutschland wirbt aktuell Fachkräfte aus dem Ausland an, gleichzeitig wollen viele Türk*innen das Land verlassen. Wird unter den Mitgliedern Ihrer Konföderation über die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen, gesprochen?

Innerhalb der Gesellschaft spielt das Thema Brain-Drain zwar eine große Rolle, aber unter unseren Mitgliedern beobachten wir das aktuell nicht. Sie fragen eher für ihre Kinder, wie diese in Zukunft nach Deutschland oder die Niederlande gehen können. Unter den Ärzt*innen wird mehr darüber gesprochen.

In diesem Jahr stehen Wahlen in der Türkei an. Wie denken Sie über einen potentiellen Regierungswechsel?

Die vergangenen Wahlen waren bereits nicht fair, es gab eine Menge Wahlbetrug. Besonders bezeichnend waren die Bürgermeisterwahlen in Istanbul, deren Ergebnis die AKP erst nach der zweiten Niederlage akzeptierte. Wenn die Wahlen fair ablaufen, wird es mit Sicherheit eine Veränderung geben. Aber hinsichtlich der Rechte von Arbeiter*innen und deren Ausbeutung sind wir nicht erst seit der Erdoğan-Regierung mit Problemen konfrontiert. Dennoch wären die Wiedereinführung des parlamentarischen Systems und die Wiederherstellung der Justizhoheit ein wichtiger Sieg. Die Konflikte zwischen uns und den Bossen werden dadurch aber nicht gelöst, das ist ein längerer Kampf. Hoffnung auf Veränderung gibt es auch unter denjenigen, die bisher der AKP ihre Stimme gegeben haben.

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