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Stimmzettel auf dem Postweg
In Berlin ist die Briefwahl auch ohne Wahlbenachrichtigung jetzt schon möglich
Das Rathaus Zehlendorf ist zur Sanierung seiner Fassade eingerüstet. Im Bürgersaal rüsten derweil 28 Männer und Frauen den Bezirk Steglitz-Zehlendorf für die Berliner Wiederholungswahl am 12. Februar. Hier ist das hiesige Briefwahlzentrum untergebracht.
Die Bildschirme der Computer befinden sich im Pausenmodus, als Landeswahlleiter Stephan Bröchler am Mittwoch vorbeischaut. Die Fernsehkameras und Fotoapparate der dazu eingeladenen Journalisten sollen keine sensiblen Daten einfangen. So sortieren die Beschäftigten einstweilen die Briefwahlunterlagen: je einen Stimmzettel für Erst- und Zweitstimme zur Abgeordnetenhauswahl und einen Stimmzettel zur Wahl der Bezirksverordnetenversammlung; dazu ein Merkblatt mit Hinweisen, wie die Wähler die Unterlagen ausfüllen und eintüten sollen, ein blauer Umschlag für die Stimmzettel sowie ein roter für den einzusendenden Wahlbrief.
Manche Berliner haben schon gewählt
2,8 Millionen Wahlberechtigte leben in der Hauptstadt. Mehr als 17 000 von ihnen haben bereits ihre Briefwahlunterlagen angefordert oder sogar schon gewählt, obwohl die Wahlbenachrichtigungen noch gar nicht bei ihnen eingegangen sind, denn die werden erst in den kommenden Tagen gedruckt und verschickt. Bürger können ihre Briefwahlunterlagen jedoch auch ohne Benachrichtigung per E-Mail anfordern. Sie können auch in die Briefwahllokale ihres Bezirks gehen und dort unter Vorlage ihres Personalausweises die Briefwahl gleich vor Ort erledigen.
Im Zehlendorfer Briefwahllokal, das sich eine Etage unter dem Bürgersaal in einem anderen Flügel des Rathauses befindet, warten am Mittwoch vier Mitarbeiter und vier Wahlkabinen auf Wähler. Es kommt zwar gerade keiner, als Landeswahlleiter Bröchler hier eintritt. Aber es sind schon welche dagewesen. 1533 Bewohner von Steglitz-Zehlendorf haben bereits ihre Briefwahlunterlagen beantragt oder sogar schon abgestimmt. Insgesamt nutzen in diesem Bezirk erfahrungsgemäß 40 bis 44 Prozent der Bürger die Möglichkeit der Briefwahl.
Kein förmlicher Aufruf zur Briefwahl
Wahlleiter Bröchler sagt von sich: »Ich bin praktizierender Urnenwahlgänger.« Für ihn ist und bleibt es etwas Besonderes, am Wahltag ins Wahllokal zu gehen. Die Briefwahl kommt für ihn persönlich nicht infrage, und er möchte auch nicht extra zur Briefwahl aufrufen. Wenn aber die per Post eingehenden Stimmzettel zu einer insgesamt hohen Wahlbeteiligung beitragen, »dann habe ich damit kein Problem«, versichert er. Bei der Abgeordnetenhauswahl im September 2021 lag die Wahlbeteiligung bei 75 Prozent, und wenigstens 70 Prozent wünscht sich Bröchler nun bei der vom Berliner Verfassungsgerichtshof angeordneten Wiederholung.
Dass bei der Vorbereitung der Wahl 2021 von einem viel zu hohen Anteil von Briefwählern ausgegangen wurde und zu wenig Wahlkabinen und zu wenig Stimmzettel in den Wahllokalen zur Verfügung standen, hatte damals zu langen Schlangen geführt. Außerdem wurden stellenweise falsche Stimmzettel ausgereicht. Wegen der chaotischen Zustände soll die Wahl nun fächendeckend wiederholt werden.
Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren – auch in Steglitz-Zehlendorf. 40 zusätzliche Kräfte hat der Bezirk eingestellt, befristet bis Anfang März und mit der Option auf Verlängerung um ein paar Wochen. Denn für den Klimavolksentscheid am 26. März werden die Leute gleich wieder gebraucht, erläutert der für Bürgerdienste zuständige Stadtrat Tim Richter (CDU). Hätte der Bezirk für das Briefwahlzentrum Personal aus seinen Bürgerämtern abgezogen, so hätten deren Öffnungszeiten eingeschränkt werden müssen. Das sollte nicht sein. Immerhin ist es in Berlin ohnehin schwer genug, einen Termin zu bekommen, um beispielsweise einen neuen Reisepass zu beantragen. Die 40 Helfer verdienen in der Regel 2500 Euro brutto im Monat. Es sind zumeist Verwaltungsangestellte im Ruhestand, die hier nicht zum ersten Mal aushelfen, wofür Richter dankbar ist.
Die getane Arbeit könnte vergeblich gewesen sein, wenn das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Wiederholungswahl am 12. Februar doch noch kippt, was Bröchler allerdings für wenig wahrscheinlich hält. Trotzdem lässt ihn der Gedanke nicht ruhig schlafen. »Ich bin das eine oder andere Mal wach geworden«, gesteht er. Auch Stadtrat Richter steht unter Stress. »Ich hatte vorher lange Haare«, scherzt der weitgehend kahlköpfige Politiker. Nach dem Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofs vom 16. November mussten die Vorbereitungen innerhalb von Wochen erledigt werden, für die sonst ein Jahr lang Zeit ist. Seit dem 2. Januar sind die Fristen aber im üblichen Rahmen. Die Briefwahl zum Beispiel beginnt auch im Normalfall 42 Tage vor dem eigentlichen Abstimmungstermin.
Erste Panne gemeldet
Am Nachmittag verbreitet die Reinickendorfer CDU die bei ihr per E-Mail eingegangene Schilderung eines Bürgers, bei seinem roten Briefwahlumschlag habe die Wahlscheinnummer gefehlt, während bei seinen Angehörigen alles gestimmt habe. Der Fall lässt bei dem Abgeordneten Stephan Schmidt (CDU) »alle Alarmglocken schrillen«. Denn ohne die Nummer könne der Umschlag im Wählerverzeichnis nicht zugeordnet werden, die abgegebene Stimme wäre damit ungültig. Schmidt fragt: »Sind wir auf dem besten Wege, auch die Wiederholungswahl komplett gegen die Wand zu fahren?« Der aufmerksame Bürger fragte telefonisch im Bezirkswahlamt nach. Er soll nun dorthin kommen und seine Briefwahl vor Ort erledigen.
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