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Die Wirklichkeit der Gedanken

Plattenbau. Tom Liwa läutet mitten im Herbst mit »Eine andere Zeit« den geschätzt 39. Frühling seiner Karriere ein

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 3 Min.
Tom Liwa mit den Flowerpornoes im Berliner Club Bi Nuu.
Tom Liwa mit den Flowerpornoes im Berliner Club Bi Nuu.

Vor Kurzem hat der Berliner Sänger und Songschreiber Jens Friebe verkündet, die »pompöse Maschinerie« des musikindustriellen Album-Tour-Hamsterrades mit sofortiger Wirkung zum Stillstand zu bringen. Zu groß der Aufwand, zu klein der Wirkungsgrad, so legte es die Interpretation seines in den sozialen Medien verbreiteten Statements nahe.

Plattenbau
Die CD der Woche. Weitere Texte unter: dasND.de/plattenbau

Auch Tom Liwa, in den 80er Jahren Mitbegründer, Gitarrist, Sänger und Songschreiber der legendären Band Flowerpornoes, war in seiner Karriere schon mehrmals an dem Punkt angelangt, alles hinwerfen zu wollen. 2013 hatte er dies gar bereits öffentlich bekundet. Doch am Ende fand er inmitten eines sozialen Netzes aus guten Freund*innen, wohlwollenden Verbündeten und nicht zuletzt langjährigen und treuen Anhänger*innen immer wieder einen für ihn gangbaren Weg, ein neues Projekt anzustoßen und umzusetzen – allen Widrigkeiten und fremdbestimmten Verpflichtungen zum Trotz.

Nun ist er mit seinem neuen Album »Eine andere Zeit« abermals auf die kleine Bühne zurückgekehrt. Und wie bei jedem neuen Liwa-Album kann man auch dieses Mal gewiss sein, dass er viel zu besingen hat. Dieses Mal sogar sehr, sehr viel: 14 Songs erstrecken sich auf 80 Minuten, und diese wiederum auf 4100 Wörter. Ein Kaleidoskop mannigfaltiger Bedeutungsebenen, Sinngehalte und verschrobener Ideen. Und der Überlänge der Platte zum Trotz wird man nicht müde dabei, ihn – und dabei letztlich zugleich sich selbst – zu beobachten und immer wieder neu zu entdecken.

Liwa hat sich wie seine beiden musikalischen Lebensbegleiter Bob Dylan und Neil Young zeitlebens zwischen Riff-orientierter Rockmusik und folkig-intimem Blues bewegt. Nach der rockigen Flowerpornoes-Platte »Morgenstimmung« aus dem letzten Jahr ist es insofern nur folgerichtig, dass »Eine andere Zeit« wieder reduzierter und zerbrechlicher daherkommt und Liwa die Distortion-Pedale gegen Westerngitarren und Bottlenecks eingetauscht hat.

Gleich der erste Track »Schon wieder Februar« lässt in prosaischer Weise Erinnerungen vorbeiziehen: »Wir wollten viel weiter / Aber sind nur bis hierher gekommen«, singt Liwa dabei in seiner gewohnt schnoddrigen, aber nicht schnörkellosen Weise, der man seine Herkunft aus dem proletarischen Milieu des Ruhrgebiets auf angenehme Weise jederzeit anhört.

Ebenso wie Young und Dylan pflegt auch Liwa ein inniges Verhältnis zu sogenannten Longtracks, weshalb auch auf dem neuen Album mit »Hunter«, »Onya«, »Ein halbes Jahr in Thailand« und »Fast schon März auf dem Traumschiff Aida« gleich vier Songs die Spiellänge von sieben Minuten überschreiten. In besonderer Weise bietet sich für Liwa dabei die Möglichkeit, seine elegischen, metaphorischen, oft tagebuchähnlichen Texte zu entfalten.

Eingespielt hat Tom Liwa die neue Platte mit der Band Marion van der Beeks Seven Sisters, der Band seiner verstorbenen und zugleich imaginären Halbschwester. Ein weiteres Alter Ego im weltumfassenden Liwa-Kosmos, das in den 90ern schon Charaktere wie Thorsten Körner hervorgebracht hat. Mit der Frage, was dabei Fakt ist und was Fiktion, können sich Spaßbremsen wie die faktencheckenden Produzent*innen einer Schauersendung wie »Hart aber fair« abgeben. Liwa hat dafür keine Zeit und wohl auch keine Lust. Auch er singt von der Wirklichkeit, aber eben von der Wirklichkeit seiner Gedanken.

Tom Liwa: »Eine andere Zeit« (Selbstverlag)

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