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Biografie füllt Text

Ein Sammelband porträtiert aufBruch, das bekannteste Gefängnistheater Deutschlands, anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Spotlight on: Ein Darsteller in »Die Gerechten« nach Albert Camus, 2022 von aufBruch auf die Bühne gebracht
Spotlight on: Ein Darsteller in »Die Gerechten« nach Albert Camus, 2022 von aufBruch auf die Bühne gebracht

Am Ende bleiben die Fotos von den Aufführungen als Intensitätsbeweis. Anrennen gegen die Mauern in sich selbst. Nicht Ausbruch der Eingesperrten aus dem Gefängnis, sondern etwas viel Besseres: Aufbruch zu sich selbst, der durchaus auch zum Ausbruch werden soll: aus dem Gefängnis des falschen Lebens.

Allerdings ist das alles andere als einfach. Für manche bleibt es unmöglich. Unüberwindbares Schicksal, das mitunter sogar ein unbefristetes Eingesperrtsein ist, Sicherungsverwahrung genannt. Doch die Utopie behauptet beharrlich das Dennoch-Mögliche: Wandlung. Hans-Dieter Schütt, Herausgeber des opulenten Text-Bild-Bandes »aufBruch. Das Berliner Gefängnistheater. Ein Porträt«, der zum 25-jährigen Jubiläum der ungewöhnlichen Institution entstanden ist, stellt der Fülle von Dokumenten zur Geschichte der Institution einen simplen Satz von Heiner Müller voran: »Biografie füllt Text.«

Nein, es wird nicht alles gut, nicht einmal besser durch unser Mittun. Darum geht es in der Kunst auch nicht. Doch einen Zusammenhang von Leben und Kunst gibt es durchaus, einen der gegenseitigen Erschütterung. Wir betreten sehenden Auges gefährliches Terrain. Hermann Hesse sagte einst, Künstler und Verbrecher seien einander sehr ähnlich, es verbinde sie das Antibürgerliche.

Das Gefängnistheater aufBruch ist seit langem mit einem Namen verbunden, dem des Regisseurs Peter Atanassow; und seit einem Jahrzehnt auch mit dem von Hans-Dieter Schütt, der nach seiner Zeit als Feuilletonchef dieser Zeitung ein zweites Leben als Dramaturg bei aufBruch begann und seitdem mehr als bloß Stück-Lesarten liefert. Schütt ist ein beharrlicher Hüter gefährlicher Gedanken, die es im Spiel auf der Bühne noch gefährlicher zu machen gilt. Und wo, wenn nicht hier, unter Akteuren, die um den schmalen Grat wissen, der den sogenannten Normalbürger vom sogenannten Verbrecher trennt?

Die Grenze, so lautet die erschütternde Einsicht immer aufs Neue, ist nicht nur schmal, sondern auch fließend. Schütt spricht von »räudiger Regie«. Wie viel Zufall, wie viel irregeleitete Selbstbehauptung spielen dabei mit – und wie wenig Freispruch von sich selbst folgt daraus? Gestern noch voll Machtgefühl und heute bloß noch ein Weggesperrter – die Theater schlagen seit jeher aus diesen nie endenden Absturzgeschichten ihr Kapital, spielen mit dem Verhängniszusammenhang von Macht und Mord seit Sophokles und Shakespeare immer aufs Neue.

Der gelingende Ausdruck dieser Not rettet die Dramatik, aber nicht den Akteur. Da sind sich Atanassow und Schütt einig. Und so lesen wir dann auch von Schütt über Atanassow: »Dieses Theater hat einen Sound. Hat eine Sprache, die den Räumen nicht gestattet, behaglich zu werden. Jeder Zentimeter kann ein Schlachtfeld sein.« Und Atanassow selbst bekennt: »Für manche mache ich Theater, für die anderen bin ich ein ambitionierter Sozialarbeiter, der sich als Theatermacher ausgibt.« Identitätsfragen, die den Regisseur mit seinen Akteuren verbinden, die hier bevorzugt »Jungs« genannt werden, manchmal auch »unsere Jungs«, was gewiss unpassend klingt, aber vielleicht auch unausweichlich ist, wenn man den Panzer aus Aggressivität und Lethargie, den viele der Insassen vor sich hertragen, durchbrechen will. Ohne Leidenschaft kein Theater und ohne Wir-Gefühl keine gelingende Aufführung.

Als Wolf Biermann noch ein subversiver Geist war und kein saturierter Besserwisser, sagte er, man müsse immer zu weit gehen, »aber nicht zu weit zu weit« – die lebenskluge Maßfrage noch in der grenzüberschreitenden Provokation. Die Grenze im Kopf als Handlungshemmer bewahrt etwa davor, ein langjähriger Insasse in der JVA Tegel zu werden. Manche aber, so scheint es, treibt es fast gegen ihren Willen immer wieder über diese Grenze.

Für die »Philoktet«-Produktion 2015 war auch ich in Tegel das, was Schütt hier nun dauerhaft ist, ein Dramaturg. Das heißt auch, im besten Fall Beichtbruder für Insassen, im schlimmsten Fall der Ersatzfeind für einen Regisseur, dessen Macht man zu sehr fürchtet, um offen zu rebellieren. Schnell bekommt man einen Eindruck von der Gesellschaft hinter Mauern. Junkies etwa sind unberechenbar und ohne Empathie. Oft wollen sie hier nur wieder Drogen verkaufen oder kaufen. Sexualstraftäter sind manchmal wehleidige Weichlinge, manchmal grobschlächtige Getriebene, wie Horst, der schon lange hier ist. Er liebt die Frauen, aber weiß nicht, wie es geht. Wie gut ich ihn verstehe, aber er ist eben einige Male »zu weit zu weit gegangen«. Eine Gefahr. Oder Mehmet, der singende Barbier vom Balkan, der erst am Anfang seiner Strafe steht, die lebenslänglich lautet. »Ich bin der friedlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Aber die Frau hat mich wahnsinnig gemacht«, klagt er. Nun sind sie und ihre Schwester tot, hingerichtet von ihm, der zu verteidigen meinte, was er für seine Ehre hielt.

Oberstes Prinzip von aufBruch ist es, die Taten, die jemanden ins Gefängnis brachten, nicht zu thematisieren. Allein der Enthusiasmus für das gemeinsame Projekt Theater ist entscheidend. Das hat auch etwas damit zu tun, sich einzufügen und unterzuordnen, was viele hier sonst strikt verweigern. Am schwierigsten, das weiß Atanassow, sind junge Gang-Mitglieder, die sich permanent behaupten wollen; am zuverlässigsten hingegen lang einsitzende Mörder, die oft erstaunliche Energie und Konzentration auf ihre Rolle verwenden.

Wer mit Gefangenen künstlerisch arbeiten will, noch dazu über lange Zeiträume, der muss ein praktikables Maß von Nähe und Distanz finden. Gewiss, es ist immer auch wie ein Gang in den Raubtierkäfig. Angst darf man haben, aber nicht zeigen. Einziger Maßstab ist am Ende die Achtung vor der künstlerischen Leistung. Schauspieler brauchen Zuspruch und Anerkennung, aber bis zum Gelingen (oder Misslingen) einer Inszenierung ist es ein langer Weg, den es gemeinsam durchzuhalten gilt. Was für viele Mitwirkende als »Urlaub vom Knast« begann, verwandelt sich schnell in eine immense Drucksituation. Denn am Ende steht der Auftritt. Hier findet eben keine Therapie statt, sondern Kunstproduktion, die sich einem schonungslosen Urteil stellen muss. Auch Ablehnung oder Verächtlichmachung muss aushalten, wer sich mit Ernst im Spiel offenbart, über Schuld, Angst und Sehnsucht spricht.

Der fremde Text kommt immer aus dem eigenen Mund, vermag oft auch den Sprecher zu befremden – von der »Gladow-Bande« (2001) über »Hannibal und Wolokolamsker Chaussee« (2009), »Wallenstein« (2013), »Rotter« (2017) bis zu »Underground« (2018), »Ödipus. Tyrann« (2021) und »Die Gerechten« (2022). Erfolg aber hat man nicht in der Hand und nie ist er gleichbedeutend mit Beifall. Zuschlagen geht einfacher.

Ein Reiz für die Darsteller ist es, wenn sie nicht nur vor hauseigenem Publikum auftreten (das ist am schwersten), sondern das Publikum von draußen zu den Vorstellungen ins Gefängnis kommt. Ein Stück Freiheit in Form von Normalität spielt immer mit. Wenn Horst ab und zu (begleiteten) Freigang hat, dann geht er ins Theater. Das sind die Höhepunkte seines Lebens hinter Gittern. Er hat einen Traum.

Nicht nur von der Vielzahl von Produktionen, die aufBruch in verschiedenen Berliner Gefängnissen realisierte, erfährt man in diesem gut gemachten Buch, das zum großen Teil ein effektvoller Bildband mit Fotos von Thomas Aurin ist, sondern auch von den Menschen, die mit aufBruch verbunden sind: Regie und Bühne (Holger Syrbe, Mitgründer von aufBruch), Kostümbild und Dramaturgie, Licht- und Tontechnik, Produktionsleitung (Sybille Arndt) auf der einen Seite, die Spieler auf der anderen. Da vermischen sich jene Biografien, die nach Heiner Müller den Text füllen. Gelebtes Leben, beschädigte Existenz, all das wird zum Erfahrungsmaterial, aus dem sich die Kunst speist.

Hans-Dieter Schütt (Hg.): »aufBruch. Das Berliner Gefängnistheater. Ein Porträt«. Alexander-Verlag, 414 S., br., 29,90 €.

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