Dauerlauf ohne Durchbruch

Mobilitätssenatorin und Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch will nach der Verkehrswende die Verwaltungswende einläuten

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 7 Min.

»Es muss nur endlich angepackt werden. Und zwar mit der Entschlossenheit, so einen mühsamen Prozess, wo man nicht sofort Positiv-Schlagzeilen erntet, auch anzugehen und fertig zu machen, bis er eben fertig ist«, sagt Bettina Jarasch zum ZDF-Reporter vor dem Rathaus Friedenau.

Die Mobilitätssenatorin und Spitzenkandidatin der Grünen für die Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus am 12. Februar spricht über die Verwaltungsreform – und nicht über die Verkehrswende, an der sie tatsächlich seit etwas über einem Jahr aktiv arbeitet. »Das wird ein paar Jahre dauern, und das macht man am besten aus dem Roten Rathaus. Und das möchte ich tun«, so Jarasch weiter. Und schon beim Thema Mobilität ist der Knoten noch längst nicht zerschlagen.

Sie sagt das beim eher übersichtlichen Wahlkampf-Auftakt am Neujahrstag auf dem Breslauer Platz vor dem Rathaus Friedenau. Jarasch kommt angejoggt in Laufkleidung: schwarze Hose, graues Oberteil. Sie führt einen kleinen Trupp von rund zwei Dutzend Parteifreunden an, die, wie es in der Einladung empfohlen worden ist, alle brav Grünen-T-Shirts übergeworfen haben. Der Platz ist Ziel des Neujahrslaufs der Tempelhof-Schöneberger Grünen, der zuvor am Rathaus Schöneberg gestartet ist.

Der letzte Teil der Strecke führte durch die Handjerystraße. 2015 wurde in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Tempelhof-Schöneberg erstmals der Beschluss gefasst, die Nord-Süd-Verbindung zwischen Bundesallee und Rheinstraße zur Fahrradstraße zu machen. Doch auf den letzten Metern vor dem endgültigen Beschluss scherte die SPD aus der grün-roten Zählgemeinschaft aus.

Über 100 Autoparkplätze hätten wegfallen sollen, um in der schmalen Straße den nötigen Platz für sicheren Radverkehr zu schaffen. Die Sozialdemokraten versteckten sich hinter der »Berücksichtigung besonders schutzbedürftiger Verkehrsteilnehmer*innen«. Als Begründung für die Fahrradstraße »mit Augenmaß« mussten Behindertenparkplätze und sichere Schulwege herhalten. In der letzten Sitzung des Jahres beschlossen alle Fraktionen, die Fahrradstraße in einer Form zu realisieren, die nicht durchgehend den Standards des Mobilitätsgesetzes entspricht, was die Breite angeht – gegen die Stimmen der Grünen. Immerhin sollen noch dieses Jahr die Bauarbeiten beginnen.

Bettina Jarasch, freut sich auf der Bühne, dass die Fahrradstraße Handjerystraße nun überhaupt kommt. Schon in den letzten Tagen des Jahres 2022 hatte sie einige Termine, die der Öffentlichkeit Fortschritte bei der Verkehrswende zeigen sollten. Zum Beispiel die Umgestaltung der Doppelkreuzung, an der Greifswalder und Friedenstraße sowie die Straßen Am Friedrichshain und Prenzlauer Berg zusammentreffen. Zwei Radfahrerinnen und ein Fußgänger starben dort 2021 bei Verkehrsunfällen.

Nun sorgen zusätzliche Fahrradampeln, neue Ampelschaltungen und Radspuren bei Wegfall von Parkplätzen für mehr Sicherheit. Eine »komplexe Baumaßnahme« nennt das Jarasch. »Nicht mutig genug« findet ein Verkehrsaktivist die Maßnahmen und bemängelt auf dem Pressetermin unter anderem, dass sogenannte Leitboys fehlen, also kleine Baken auf dem Begrenzungsstreifen des Radwegs. Jarasch erklärt, dass es noch Nachbesserungen geben soll und es sich überhaupt nur um die erste Stufe des Umbaus handelt.

»Es ist unbefriedigend und kann uns nicht zufriedenstellen, wenn wir den Unfällen immer nur hinterherbauen«, sagt Jarasch. Sie nennt die vielen Punkte, die für die Erfüllung der »Vision Zero« – also null Verkehrstote – nötig sind: weniger Autos, langsamer fahrende Autos, weniger Lkw, diese jedoch mit verpflichtendem Abbiegeassistenten, aber auch mehr Kontrollen und mehr Blitzer.

Geschwindigkeitsverstöße müssten konsequent geahndet werden. Es könne nicht sein, dass Anzeigen fallen gelassen werden, wie es die Polizei in diesem Jahr aus Überlastung getan habe. Damit holt sie Innensenatorin Iris Spranger (SPD) mit ins Boot der Verantwortung. »Wer sich vor diesen Wahrheiten drückt, dem ist es nicht ernst mit der Verkehrssicherheit«, so Jarasch. Sie unterstreicht, dass es dabei nicht um Ideologie, sondern um Sicherheit gehe.

»Reibungsverluste vermeiden und Beschleunigung erreichen«, das verspricht sich die Grünen-Spitzenkandidatin von der seit dem Jahreswechsel vollzogenen Rekommunalisierung des Berliner Ampelbetriebs, die sie erwähnt. Letztlich geht es insgesamt im Mobilitätsressort darum, Prioritäten zu setzen und die nötigen Maßnahmen zügiger umzusetzen. Dafür war sie schon vor der letzten Wahl tief in die Materie eingetaucht. Schon im Sommer 2021 wartete die einstige migrations- und integrationspolitische Sprecherin mit erstaunlicher Sachkenntnis in Verkehrsfragen auf.

Nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen mussten zahlreiche Akteure die Grünen dazu drängen, dass Jarasch auch wirklich das Amt der Mobilitätssenatorin übernimmt. Die Gefahr, politisch verbrannte Erde für sich und die Partei zu hinterlassen, war groß. Denn ihre glücklose Vorgängerin Regine Günther hatte am Ende eigentlich keine Freunde mehr. Natürlich die Phalanx der Gegner einer Verkehrswende, aber auch die eigentlich Verbündeten: die Fahrradlobby, Fahrgast-, Umwelt- und Verkehrsverbände. Eine ausgezehrte, teilweise autofixierte Verwaltung, generell mangelnde Verwaltungserfahrung und fehlende zwischenmenschliche Kompetenz waren Günthers innere und äußere Feinde. Und dazu noch die spezielle Berliner Dysfunktionalität des Verwaltungsapparats.

Es wirkt überzeugend, wenn Jarasch sagt, dass sie »tief in die Strukturen und Prozesse eingedrungen ist«, um sie zu verstehen und Blockaden aufzubrechen. In der von ihr im Frühjahr 2022 gegründeten Projekteinheit Radwege kooperiert die Hauptverwaltung direkt mit neun Bezirken, nur jene mit CDU-Verkehrsstadträten verweigern sich bisher. Bisher ist das Ergebnis der Kooperation, die Projekte aus dem Kompetenzdschungel führen soll, allerdings überschaubar. Ganze 350 Meter neue Radwege wurden bisher geschaffen.

Noch nicht zu erkennen ist eine stärkere Forcierung der zahlreichen Straßenbahnprojekte in der Stadt, deren Realisierungshorizont immer weiter nach hinten geschoben wird. Auch hier braucht es neue Strukturen.

Blockaden aufbrechen konnte Jarasch dagegen mit ihrem Brandenburger Amtskollegen Guido Beermann (CDU). Im Frühjahr einigten sich die beiden Länder nach jahrelanger Gutachtenschlacht politisch, dass die Potsdamer Stammbahn über Berlin-Zehlendorf als Regionalbahnstrecke wiederaufgebaut werden soll. Vor wenigen Tagen wurde auch die 26 Millionen Euro schwere Finanzierungsvereinbarung für die nächste Planungsstufe des Vorhabens verabschiedet, das den Berliner Bahnknoten insgesamt leistungsfähiger machen soll.

Ein neuer Umgang herrscht zudem mit der in zahlreichen Initiativen, Verbänden und Vereinen organisierten Zivilgesellschaft. Fand unter Regine Günther, wenn überhaupt, nur die Fahrradlobby Gehör, gibt es nun regelmäßige Gespräche mit dem gesamten Spektrum der Verkehrsszene. Zielkonflikte werden im Zweifelsfall nicht mehr einfach zugunsten des Radverkehrs entschieden. Natürlich gibt es von der Verkehrswende-Lobby, die oft untereinander uneins ist, weiter viel Detailkritik, doch die große Unzufriedenheit, nicht gehört und nicht ernst genommen zu werden, ist weitgehend verschwunden.

Nicht los wird Bettina Jarasch den ideologisch aufgeladenen Kampf um die autofreie Friedrichstraße. Nicht nur die Opposition, auch die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) triumphierte im Oktober nach der Niederlage vor Gericht, die bis zum Abschluss des laufenden Widmungverfahrens als Fußgängerzone die Wiederöffnung für den Autoverkehr erzwungen hatte.

Giffey habe wohl gar nicht verstanden, worum es bei dem Urteil geht, keilte Jarasch postwendend zurück. Ihre Empörung war sicher nicht nur dem aufziehenden Wahlkampf geschuldet, sondern es ging wohl vor allem darum, dass die Regierende einfach etwas dahersagt, ohne sich mit der Materie auseinandergesetzt zu haben – was bei Giffey und Verkehrsthemen eher die Regel als die Ausnahme ist. Nicht umsonst sagt Bettina Jarasch in Friedenau, dass es eine »andere Führungskultur« im Roten Rathaus brauche.

»Es ist so viel leichter, schöne Schlagzeilen zu formulieren. Es ist sehr viel schwieriger, die Aufgaben auch anzugehen. Ich bin eine, die dafür steht, dass ich die Aufgaben auch wirklich angehe«, sagt Jarasch zu »nd« über ihre Verkehrspolitik. Da scheint es nur konsequent, das Mammutthema Verwaltungsreform ernsthaft umsetzen zu wollen.

»Es ist Zeit für eine neue Führung in dieser Stadt, die die nötigen Veränderungen mit Energie und einem klaren Ziel vor Augen angeht. Das Wahldesaster hat gezeigt, dass 21 Jahre SPD-Führung der Stadt nicht gutgetan haben«, sagt die Grünen-Spitzenkandidatin auf der Friedenauer Bühne.

Bettina Jarasch baut darauf, es diesmal in dem »spannenden Rennen« wirklich auf Platz eins schaffen zu können und die »progressive Koalition« mit SPD und Linke als Chefin fortzusetzen. »Unsere Chancen sind sehr, sehr gut. Wir sind der einzige der drei Koalitionspartner, der auch in der Regierungszeit an Zustimmung gewonnen hat. Ich bin nicht mehr die unbekannte Kandidatin«, sagt sie.

Doch bekannt heißt nicht unbedingt beliebt. »Ich will die Jarasch nicht sehen. Ich finde die furchtbar«, sagt kurz vor dem Eintreffen der Spitzenkandidatin ein Kinderwagen schiebender Mann zu seiner Frau. Außer den an die 100 Parteimitgliedern verfolgen vielleicht zwei Handvoll Menschen den Wahlkampf-Auftakt am Neujahrsmorgen. Bei den selbst gebackenen, mit grünem Zuckerguss überzogenen Igel-Plätzchen greift kaum jemand zu.

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