»Prinzipiell unbelehrbar«

In Russland wächst die Kritik an Putins unfähiger Militärführung

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.
Russische Soldaten in der Ukraine: Wegen der wachsenden Zahl von Kriegstoten sprachen Blogger etwa von »krimineller Nachlässigkeit«.
Russische Soldaten in der Ukraine: Wegen der wachsenden Zahl von Kriegstoten sprachen Blogger etwa von »krimineller Nachlässigkeit«.

Russlands Präsident Wladimir Putin unterzeichnete dieser Tage ein Dekret über – wie es heißt – zusätzliche soziale Garantien für die kämpfende Truppe. Kommt ein Militär, ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin des Innenministeriums oder der Rosgwardia-Einheiten während der »Sonderoperation« in der Ukraine um, so erhält die Familie fünf Millionen Rubel (65 000 Euro). Verwundete haben Anspruch auf eine Zahlung von bis zu drei Millionen Rubel (39 000 Euro).

Die »Fürsorge« des Kreml wirkt offenbar anders als beabsichtigt. Sie verstärkt das Grummeln und Grollen angesichts der »Inkompetenz und Unfähigkeit«, mit der Russland Krieg gegen das Nachbarland führt. Noch vor einem halben Jahr verhängten Gerichte schwere Strafen gegen Menschen, die »Lügen« über die »glorreiche« russische Armee und deren »siegreiche« Operationen verbreiteten. Inzwischen ist selbst der ohnehin in interne Machtkämpfe verstrickte Verteidigungsminister Sergej Schoigu nicht mehr unangreifbar.

Es sind vor allem Russlands einflussreiche Militärblogger, die jenseits sonst üblicher strenger Zensur schwere Vorwürfe erheben. Ein ukrainischer Angriff in der Neujahrsnacht auf die besetzte Stadt Makijiwka, bei der eine russische Einheit schwerste Verluste erlitt, wurde zum Treibmittel von Wut. Das russische Verteidigungsministerium bestätigte am Montag 63 Tote, erhöhte die Zahl am Mittwoch auf 89. Semjon Pegow, ein prominenter russischer Kriegsberichterstatter, stellte klar, dass es sich dabei nur um die Anzahl der bislang identifizierten Toten handle. »Die Liste der Vermissten ist leider deutlich länger.«

Kiew spricht von 400 Toten sowie 300 Verletzten und veröffentlichte zum Hohn ein Video, auf dem ein mit Lichterketten weihnachtlich geschmückter Raketenwerfer in Aktion zu sehen ist. Moskau bestätigte, dass Makijiwka von solchen aus den USA gelieferten Waffen angegriffen wurde. Angeblich seien zwei der anfliegenden sechs Raketen abgefangen worden. Selbst wenn das stimmen sollte – die übrigen zerstörten das ehemalige Berufsschulgebäude, in dem frisch mobilisierte Reservisten untergebracht waren, total. Dass sich in dessen unmittelbarer Nähe ein Munitionsdepot befand, verstärkte die
Wirkung des Angriffs.

Blogger, die zusammen mehrere Millionen Abonnenten auf Telegram und so einen gewissen Einfluss im Kreml haben, beschuldigen die russische Militärführung der »kriminellen Fahrlässigkeit«. Man habe Hunderte Soldaten an einem Ort versammelt und nicht einmal dafür gesorgt, dass deren Mobiltelefone ausgeschaltet sind. So sei es für die ukrainische Aufklärung nicht schwer gewesen, das lohnende Ziel auszumachen. Pegow, der von Putin erst unlängst mit einem »Heldenorden« dekoriert wurde, hält die »Geschichte mit den ›Handys‹ für nicht sehr überzeugend«. Der Verdacht: Man wolle die Soldaten selbst für ihren Tod verantwortlich machen.

Die genaue Anzahl der Toten wird man nie erfahren, Insider sprechen von einem der größten menschlichen Tagesverluste seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar vergangenen Jahres. Igor Girkin, ein Ex-Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes GRU, der bei der Annexion der Krim sowie bei den beginnenden Separationskämpfen im Donbass eine Schlüsselrolle einnahm, informiert stets aktuell, wissend und offenbar mit Rückendeckung alter Freunde mehr als 750 000 Telegram-Abonnenten über den Kriegsverlauf. Für ihn steht fest: »Unsere Generäle sind prinzipiell unbelehrbar.« Auch andere monieren, dass zu viele Kommandeure nicht einmal über »gesunden Menschenverstand« verfügten.

Russlands Überfall auf die Ukraine war von Anfang an durch überhebliche Planungsfehler, falsche Taktiken, miese Aufklärung, schlechte Logistik und eine unzureichende Ausbildung der Truppen gekennzeichnet. Die Einberufungswellen von Reservisten, sogenannte »Mobiks«, haben die Probleme noch verstärkt. Die Schuld daran bleibt derzeit noch bei untergeordneten Rängen hängen. So gibt es gerade Versuche, die Verantwortung für das Makijiwka-Debakel auf Oberst Roman Jenikejew, den zuständigen Regimentskommandeur, abzuwälzen. Seine Schuld sei lediglich, dass er »blind den Anweisungen seiner Vorgesetzten gefolgt ist«, liest man dagegen im Telegram-Kanal Rybar. Der wird von über 1,1 Millionen Abonnenten gelesen und kritisiert auch die als Reaktion auf Makijiwka gedachten russischen Artillerie-Attacken auf Druschkiwka und Kramatorsk heftig. Rache, so heißt es, sei niemals ein guter Grund für militärische Operationen.

Der Telegram-Kanal Readovka mit fast 1,6 Millionen Abonnenten berichtet über eine massive Kritik von nicht namentlich genannten Militärkorrespondenten und Experten, die die Einquartierung der Wehrpflichtigen in Reichweite feindlicher Raketenartillerie als »Verbrechen« bezeichnen. Von »krimineller Nachlässigkeit« seitens der Militärführung spricht Blogger Pawel Gubarew. Er hat 50 000 Abonnenten. Man begehe dieselben Fehler wie im Frühjahr und Sommer, doch: »Wir befinden uns den elften Monat im Krieg!« Wenn man solche Taten jetzt nicht bestrafe, dann werde das immer so weitergehen. Andere im Netz kritisieren das »Heldentum«, das Militärführer ihren Untergebenen abverlangen. Motto: »Warum brauchst du einen Schützengraben, bist du kein Mann?!«

Der russische Militärexperte Boris Roschin sieht in der Unfähigkeit, die Erfahrungen des Krieges zu begreifen, ein ernstes Problem. Ein Sprecher der von Russland eingesetzten Regierung in der sogenannten Volksrepublik Donezk ist gleichfalls offen: »Der Feind hat uns schwerste Niederlagen in diesem Krieg zugefügt. Nicht wegen seiner Coolness oder seines Talents, sondern wegen unserer Fehler.« Und »Jeder Fehler hat einen Namen« liest man immer häufiger bei Telegram. Militärblogger nennen vor allem den von Denis Puschilin. Man fordert ungewöhnlich deutlich den Rücktritt des Chefs der prorussischen Separatisten in der Region Donezk. An höhere Bereiche traut sich (noch) niemand heran.

Es geht den meisten so vernehmbaren Kritikern nicht um eine Ablehnung des russischen Angriffskrieges. Auch jene, die Gerüchten zufolge jetzt verstärkt staatliche Stellen mit wütenden Anrufen konfrontieren und die Verantwortlichen für die Verluste in Makijiwka wegen »Verrats am Vaterland« vor Gericht bringen wollen, verlangen kein Ende des Krieges. Selbst viele russische Journalisten im Exil vermeiden solche Forderungen und verweisen eher auf die Unfähigkeit der moralisch verkommenen Eliten in Moskau. Die hätten, so schrieb Alexander Newsorow, der schon mal Mitglied der Staatsduma war und jetzt in Israel lebt, nicht einmal versucht, die Leichen der toten Soldaten aus dem Betonschutt zu bergen, denn: »Soldatenfleisch ist in Russland so billig, dass es keinen Sinn macht
zu zählen.«

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