Niemals ein Regierender

Unzählige neue Worte und Wendungen schuf Velimir Chlebnikov im Dienste einer Poesie der Zukunft. Nun hat der Suhrkamp-Verlag das Werk des russischen Dichters neu herausgegeben

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Chlebnikov, gezeichnet vom russischen Künstler Boris Grigoriev
Chlebnikov, gezeichnet vom russischen Künstler Boris Grigoriev

Der Dichter Velimir Chlebnikov, 1922 im Alter von 47 Jahren hungerleidend in der russischen Provinz verstorben, war selbst ernannt der »König des Reichs der Zeit« und die »Sojabohne der Himmel« sowie der »Felsen der Zukunft«. Um den Druck seiner Texte scherte er sich kaum, anekdotisch ist überliefert, er hätte sie bei Reisen – und das rastlose Hin und Her war seine bevorzugte Lebensform – dazu verwendet, um Kissen zu stopfen. Chlebnikov hatte unter anderem Mathematik studiert und bediente sich in seiner Dichtung einer komplexen Zahlenmystik. Seine enzyklopädischen Kenntnisse der Sprachen, Wissenschaften und Geschichte verwendete er auf unnachahmliche Weise in Diensten einer Poesie der Zukunft. »Erkühnen wir uns, den Hühnerställen der Wissenschaft zu entfliegen.«

Noch vor den in westlicheren Gefilden tätigen Dadaisten prägte Chlebnikov eine Dichtung, die alle Gattungsgrenzen hinter sich lässt, unzählige Neologismen schöpft: Sein Spiel mit der Sprache macht die Worte elastisch, er folgt dem Klang, lässt Verbindungen und Verknüpfungen zwischen Sinnsprengseln zu, ohne etwas Genaues vorzugeben. Das alles geschieht im Dienst der Veränderung der Welt zum Besseren, Freieren, Schöneren. Chlebnikov wird oft dem Futurismus zugerechnet. Er verkehrte mit vielen revolutionären Dichtern seiner Zeit, war Vorbild und schaffte es doch, sich nie vereinnahmen zu lassen – unterzeichnete aber beispielsweise das berühmte Pamphlet »Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack«. Zum Berufsrevolutionär oder Vorzeigekulturexponat taugt er nicht. Chlebnikov ließ sich in die Psychiatrie einweisen, um nicht zum Militär zu müssen.

Vor über 50 Jahren schaffte es der Slawist und damalige Suhrkamp-Lektor Peter Urban, einige der bekanntesten deutschsprachigen Lyriker der 50er und 60er Jahre für ein Experiment zu gewinnen: Mithilfe von Interlinearübersetzungen, Wortlisten und philologischen Kommentaren der Übersetzerin Rosemarie Ziegler sollten unter anderem politisch links Verortete wie Hans Magnus Enzensberger und Hans Christoph Buch oder experimentell Versierte wie Ernst Jandl und Friederike Mayröcker sich daran wagen, für deutschsprachige Leser mit ausreichend Witz, Sprachgespür und Wagemut Chlebnikov-Nachdichtungen verfassen. Die allermeisten Teilnehmer hatten eigentlich keine Ahnung vom Russischen, Ausnahmen bildeten Oskar Pastior und Paul Celan, der Chlebnikovs Zeitgenossen Ossip Mandelstam übersetzt hatte, und das Projekt Urbans explizit begrüßte. Äußerst unterschiedlich fallen also die Umsetzungen eines Chlebnikov-Verses aus: Ihr Lacherer, schlagt die Lache an!/ Oh, entlacht, Lacherer./ o lacht auf ihr lachhälse/ Na, zugelacht, ihr Lachlackel/ ach, auflacht, lachenschaftler! Was hier der Schrägstrich trennt, beruht alles auf demselben Vers. Durch die komplexe morphologische Struktur des Russischen lernen wir hier Möglichkeiten für einen Umgang mit der deutschen Sprache kennen, die nicht vorgesehen sind und gerade dadurch zeigen, dass ein freier, poetischer Gebrauch möglich ist.

Nachdem der Suhrkamp-Verlag das Projekt Urbans aus verschiedenen Gründen letztlich nicht finanzierte, erschien in zwei Bänden eine Auswahl aus Chlebnikovs Werken 1972 auf Deutsch, geordnet nach dem kollektiven Poesie-Übersetzungsprojekt und der historisch wichtigen Sparte Prosa, die Stücke, Theorie und Pamphlete, aber auch jede Menge Briefe enthält, mit deren Hilfe der Dichter im Dialog mit Zeitgenossen verortet werden kann. Der ungleich berühmtere Dichter der russischen Revolution, Wladimir Majakowski, schrieb über seinen Freund Chlebnikov in einem Aufsatz nach dessen Tod: »Chlebnikov ist kein Dichter für den Verbrauch. Chlebnikov ist ein Dichter für Produzenten.« Nun kaufen aber mögliche Produzenten der Zukunft recht gerne schwierige Dichter ein; wiederum machen die Verlage mit ihnen kein Geld. Drum war Chlebnikov auf Deutsch, zumindest in diesem Umfang, viele Jahre nur äußerst teuer antiquarisch zu erstehen. Der Suhrkamp-Verlag schafft seit wenigen Monaten Abhilfe und hat die von Urban organisierten »Werke« neu veröffentlicht: in einem Band, für knapp 70 Euro. Damit spart der geneigte Leser ungefähr die Hälfte dessen, was man davor zumindest auf den gängigen Online-Buchkaufplattformen zahlen musste.

Aus Platzgründen fehlen verständlicherweise die Originale, deren Präsenz vielleicht dem einen oder andern den versuchsweisen Nachvollzug der Gedichtübersetzungen ermöglicht hätte. Peter Urbans Nachwort erhellt jedoch die verschleppte Chlebnikov-Rezeption in Ost und West und gibt Einblicke in sein poetisches Verfahren auch ohne Kenntnisse des Russischen. Im Gegensatz zur alten Rowohlt-Ausgabe enthält der neue dicke Suhrkamp-Band ein weiteres Nachwort der Übersetzerin Marie-Luise Knott über die Editionsgeschichte und das lange, vergleichsweise realistische Gedicht Chlebnikovs »Der Vorsitzende der Tscheka«, das erst in der Glasnost-Zeit veröffentlicht werden durfte.

Seiner Lyrik bleibt stets eigen, dass die Prophetie, die Chlebnikov treibt und seine universale Neugier nie in eine verkappte Künstlerherrschaft umschlagen, die größenwahnsinnige Kopfpolitik kryptisch ästhetisieren will. Deutlich wird dies im kleinen Gedicht »Absage«: Es ist mir weitaus lieber,/ in die Sterne zu schauen/ als ein Todesurteil zu unterschreiben./ Es ist mir weitaus lieber,/ den Stimmen der Blumen zu lauschen,/ die flüstern »das ist er!«,/ wenn ich durch den Garten gehe,/ als Gewehre zu sehen,/ die jene töten, die/ mich töten wollen./ Deshalb werde ich niemals,/ nie ein/ Regierender sein!

Velimir Chlebnikov: Werke. Suhrkamp, 1168 S., geb., 68 €.

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