- Politik
- Julian Assange
Die Rache der Großmächte
Großbritannien und die USA ziehen das Verfahren um die Auslieferung des Wikileaks-Gründers in die Länge
Vor mehr als zwölf Jahren begann für Julian Assange ein Freiheitsentzug mit bislang nicht absehbarem Ende, der von Untersuchungshaft, Hausarrest über Botschaftsasyl bis in das Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh reicht. Nachdem zunächst die US-Behörden Ermittlungen gegen den australischen Journalisten und Betreiber der Enthüllungsplattform Wikileaks eingeleitet hatten, folgte im August 2010 ein Haftbefehl aus Schweden wegen angeblicher Sexualdelikte. Er habe in Schweden zwei Frauen vergewaltigt, lautete der Vorwurf. Letzterer ließ sich nicht erhärten, die entsprechenden Ermittlungen wurden jedoch erst Anfang 2019 eingestellt.
Der 7. Dezember 2010 markiert den Beginn der langen Zeit, die sich Assange nun schon nicht mehr frei bewegen kann. An jenem Tag stellte er sich den britischen Behörden zwecks Prüfung der Rechtmäßigkeit des schwedischen Auslieferungsgesuchs. Eine Woche darauf wurde er gegen eine hohe Kaution aus der U-Haft entlassen, doch schon am 16. Dezember wurde gegen ihn Hausarrest verhängt, er musste eine elektronische Fußfessel tragen.
»An jedem Werktag wachen 71 000 Menschen aus 191 Ländern, die siebenundzwanzig verschiedene US-Regierungsbehörden repräsentieren, auf und gehen an Flaggen, Stahlzäunen und bewaffneten Wachen vorbei in eines der 276 befestigten Gebäude, die die 169 Botschaften und andere Missionen des US-Außenministeriums repräsentieren«, schreibt Assange im Vorwort zum Buch »The Wikileaks Files« nüchtern. Und weiter: »Sie werden auf ihrem Weg von Vertretern und Agenten aus siebenundzwanzig anderen US-Regierungsabteilungen und -behörden begleitet, darunter die Central Intelligence Agency (CIA), die National Security Agency (NSA), das Federal Bureau of Investigation (FBI) und die verschiedenen Abteilungen des US-Militärs.«
Es sind diese Menschen und zahlreiche Politiker*innen, die Assange in seinem Wirken rund um das Wikileaks-Projekt schon seit 2007 gegen sich aufgebracht hat. Kein Halbjahr verging ohne eine neue Enthüllung: Machtmissbrauch in Kenia; extrem reche Parteimitglieder in Großbritannien; Steuerhinterziehung in der Schweiz; Missbrauch staatlicher Befugnisse, um weltweite Internetsperren zu betreiben; illegales Verklappen von Giftmüll in der Elfenbeinküste.
Auch Tausende Seiten der geheimen Verträge zum deutschen LKW-Mautsystem Toll-Collect tauchen auf Wikleaks auf. Unterlagen des Feldjäger-Reports zum Bombenabwurf 2009 im afghanischen Kundus werden nur wenige Wochen danach ebenfalls öffentlich. Gut ein Jahr später belegen von Wikileaks veröffentlichte Planungsdokumente zur Loveparade am 24. Juli 2010 in Duisburg, dass auf die Risiken, die zum Unglück mit 21 Toten und 652 Verletzten führten, schon im Planungsprozess hingewiesen wurde.
Enthüllung um Enthüllung bewiesen Wikileaks und die Medien, die die von der Plattform bereitgestellten Daten prüften und journalistisch aufbereiteten, dass im öffentlichen Interesse Geheimnisse enthüllt werden mussten. Die internationale Liste der Medien, die auf Wikileaksmaterialien zurückgriffen, ist lang. Der britische »Guardian«, der US-Sender CBS und die »New York Times« waren ebenso darunter wie der »Spiegel« aus Deutschland. Sie alle bestätigten mit ihren Recherchen nicht nur die journalistische Relevanz der Wikileaks-Informationen, sondern auch die Arbeitsweise der Plattform.
Die Enthüllungen, die Gewaltverbrechen von US-Militärangehörigen im Irak und in Afghanistan belegten, waren es jedoch, nach denen die Verfolgung von Assange durch die US-Justiz begann. Die veröffentlichten Beweise unter anderem für Morde an Zivilist*innen in den beiden Ländern lüfteten ein bis dahin sorgsam gehütetes Geheimnis: In den Kriegseinsätzen verhalten sich westliche Soldaten kaum anders als die Terroristen, die sie erklärtermaßen bekämpfen wollen.
Schon bevor Wikileaks mit den Veröffentlichungen begann, hatten traumatisierte und kriegsgeschädigte US-Soldaten über Menschenrechtsverletzungen durch ihre Truppen im Irak berichtet, so auch Joshua Key. In seinem Buch »Ich bin ein Deserteur« berichtete er bereits im Mai 2007 vom grausamen Vorgehen der US-Truppen im Irak. Er schildert den Terror, den die US-Einheiten durch nächtliche Überfälle auf Dörfer verbreiteten, schreibt über verschleppte Männer und durch großkalibrige Munition abgerissene Köpfe von Zivilisten. Keys Resümee: »Den Irakern konnten wir antun, was wir wollten. Doch wer sich dem Dienst entzog, den erwartete die Hölle. Ich werde mich nie dafür entschuldigen, dass ich Fahnenflucht begangen habe. Ich flüchtete vor der Ungerechtigkeit, und das war richtig. Entschuldigen muss ich mich nur beim irakischen Volk.« Augenzeugenberichte wie der von Key erhielten mit den Wikileaks-Veröffentlichungen quasi eine amtliche Bestätigung. Wer aus den im Militärsprech nüchtern abgefassten Berichten nicht schon den Beleg für Menschenrechtsverletzungen und brutale Morde entnehmen konnte, dem wurde spätestens mit dem »Collateral Murder«- Video die Möglichkeit genommen, die Kriegsverbrechen zu bestreiten.
Zwölf Jahre nach den schockierenden Enthüllungen ist Julian Assange noch immer in Isolationshaft. US-Präsident Joe Biden zeigte sich unbeeindruckt von einem Begnadigungsersuchen, das zahlreiche Politiker, NGOs und die Rechtsanwältin Stella Morris, die Ehefrau von Assange, vor Weihnachten gestellt haben. Auch Demonstrationen für die Freiheit des Journalisten am Dienstagabend in Mexico-City, wo Biden zum Nordamerika-Gipfel angereist war, blieben bislang unkommentiert.
Nach Barack Obama und Donald Trump ist Biden der dritte US-Präsident, der auf der Auslieferung von Assange besteht. Das erklärte Ziel dürfte ein Schauprozess sein, in dem Assange kaum das Recht zugestanden wird, sich zu verteidigen. Denn die Inhalte, auf die er eingehen müsste, werden selbst vor Gericht weiterhin als Staatsgeheimnisse behandelt.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.