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Kinderbücher, Krieg und Kritik
Der renommierte Hans-Christian-Andersen-Preis geriet ins Kreuzfeuer der Ukraine-Invasion
Peter Rahbæk Juel ist Bürgermeister der drittgrößten dänischen Stadt Odense und freut sich gerade sehr, denn er hat einen Sieg über die russischen Krieger errungen. Gemeinsam mit Politikern, Gewerkschaftern und Kulturschaffenden in Dänemark, Schweden und Finnland verteidigte der Sozialdemokrat die Ehre des 1805 geborenen größten Sohnes seiner Stadt. Hans Christian Andersen heißt der und ist weltweit als Märchenerzähler berühmt. Von ihm stammen Klassiker wie »Das Feuerzeug«, die »Die Prinzessin auf der Erbse« oder »Des Kaisers neue Kleider«.
Doch was hat das mit Putins Krieg gegen die Ukraine zu tun? Um das zu klären, muss man in die Schweiz schauen. In Basel gibt es ein Internationales Kuratorium für das Jugendbuch, kurz Ibby genannt. Das gemeinnützige Netzwerk von Menschen aus aller Welt versucht Kinder und Bücher zusammenzubringen. Und dafür lobt es Preise aus. Der nach Hans-Christian Andersen benannte wird seit 1956 alle zwei Jahre vergeben und ist für Autoren und Illustratoren von Kinder- und Jugendbüchern so etwas wie ein kleiner Nobelpreis. Astrid Lingreen, Tove Jansson, Ib Spang Olsen, Cecil Bødker, Margaret Mahy oder Wolf Erlbruch konnten sich damit bereits schmücken. Zuletzt, im Jahr 2022, wurden die französische Autorin Marie-Aude Murail sowie die Illustratorin Suzy Lee aus Südkorea bedacht.
Die nächste Preisverleihung soll im Jahr 2024 stattfinden, doch bereits im kommenden März will man die Liste der auszeichnungswürdigen Kandidaten veröffentlichen. Dann beginnt die Arbeit einer international besetzten Jury. Und damit ist man beim Kern des Problems, das den Bürgermeister von Odense umtrieb: Als Chefin der Jury war im September 2022 Anastassija Archipowa nominiert worden. Die Russin ist Professorin an einer Kunstakademie in Moskau und Präsidentin der Illustratoren-Gewerkschaft. Durchaus möglich, dass in vielen deutschen Kinderzimmern Märchenbücher – unter anderem der Gebrüder Grimm – stehen, die sie illustriert hat. Archipowa ist auch Mitglied in einem Moskauer Künstlerverband, der, so hörte man jüngst im Danmarks Radio (DR), zum russischen Präsidenten Wladimir Putin hält und auch mit einem Plakat-Wettbewerb aktiv Propaganda für den russischen Angriff auf die Ukraine betrieben hat.
Er wehre sich dagegen, dass der Andersen-Preis »auf diese Weise durch Kriegspropaganda besudelt wird«, heißt es in einer Erklärung von Odenses Bürgermeister. Die Mitgliedschaft der gewählten Jurychefin in der russischen Künstlervereinigung sei nicht »mit den Wertegrundlagen vereinbar, für die H. C. Andersen und unsere Sicht auf ihn stehen«. Nun haben weder Peter Rahbæk Juel noch die Stadt bei Ibby ein Mitspracherecht, räumt er ein, doch sei der Name des Preises unlösbar mit Odense verbunden.
Beim Ibby-Netzwerk, dem die Spaltung droht, war man erschrocken. Man verurteile »nachdrücklich und unmissverständlich die Aggression des russischen Militärs gegen die Ukraine«, schrieb die Vorsitzende Sylvia Vardell in einer Stellungnahme, die allerdings verhallte.
Stattdessen griffen die Medien das Thema auf und fragten: Kann eine Vertreterin des russischen Kulturlebens den weltweit renommiertesten Preis für Kinderbücher vergeben, während Russland Bibliotheken in der Ukraine bombardiert? Aus Finnland, Norwegen, Belgien, Estland, Lettland, Litauen sowie aus der Ukraine und der Republik Moldau war ein klares »Nein« vernehmbar.
»Der Hans-Christian-Andersen-Preis ist das Beste, was man bekommen kann, und das müssen wir schützen«, erklärte Margaretha Ullström, die Präsidentin der schwedischen Ibby-Vertretung. Zwar hat Anastassija Archipowa stets zurückgewiesen, etwas mit Kriegspropaganda zu tun zu haben, doch es sei schwierig, so meinte Ullström, »ohne Zustimmung der russischen Regierung international aktiv zu sein. Daher wird sie zu einem Symbol, unabhängig davon, was sie über den Krieg denkt.«
Dänemarks Ibby-Vertretung tat sich zunächst etwas schwer. Dann erklärte die Vorsitzende Birgitte Reindel, »nach den neuen Informationen« über Anastassija Archipowa habe man beschlossen, in diesem Jahr keinen dänischen Autor und keinen dänischen Illustrator für den Andersen-Preis zu nominieren. Parallel dazu wurde registriert, dass sich auch das dänische Königshaus von der russischen Jury-Chefin distanzierte. Klammheimlich und kommentarlos verschwand der Hinweis, dass Königin Margrethe die Schirmherrschaft über den Preis übernommen hatte, von der Website des Hofes.
Von einfühlsamen Kinderbüchern über die Verleihung eines internationalen Autorenpreises bis hin zur russischen Kriegspropaganda, die den Überfall auf die Ukraine feiert – das ist in diesen Tagen kein weiter Weg. Anastassija Archipowa wird ihn nicht mitgehen. Sie legte in dieser Woche das Amt als Juryvorsitzende für den Hans-Christian-Andersen-Preis nieder.
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