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Gefühle sind noch keine Wahrheit
Ein neuer Sammelband diskutiert »Probleme des Antirassismus«
Heute scheint es für universitären Protest zu genügen, dass sich Studierende von einem Vortragstitel angegriffen fühlen. Ohne den Inhalt bereits zu kennen oder für ihre Vorwürfe Beweise zu liefern, gilt oftmals das Unbehagen Einzelner bereits genug, um einen Vortrag abzusagen. Der Politikwissenschaftler Matthias Küntzel hat das wiederholt erfahren – weil er sich anmaßt, über islamischen Antisemitismus zu sprechen. Beispiele nennt er in dem Sammelband »Probleme des Antirassismus«, der kürzlich im Verlag Edition Tiamat erschienen ist. Antirassistische Theorieansätze gewinnen derzeit weltweit einen größeren Einfluss in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens, was an sich zu begrüßen ist. Indes zeigt sich an den Beispielen Küntzels, dass nicht jede Entwicklung ihrem emanzipatorischen Anspruch Rechnung trägt.
Er schildert, wie seine Vorträge an Universitäten vorab in Frage gestellt worden seien, in Leeds 2007, Leipzig 2018 und Münster 2021: »An keinem der drei Orte spielte es eine Rolle, ob meine Kritik am Antisemitismus stichhaltig ist. Schon die Absicht, sich damit befassen zu wollen, reichte aus, den Vorwurf des ›Rassismus‹ oder der ›Dämonisierung‹ zu erheben.« Das wirft die Frage auf, wem damit geholfen wäre, wenn gewisse Problemfelder unbesprochen blieben, weil Einzelne einen Vortragstitel bereits als »zutiefst beleidigend« empfinden. Gefühle jedoch sind keine Wahrheit. Gefühle sind real, aber nicht wahr. So richtig es ist, die Gefühle anderer wahrzunehmen, so wichtig bleibt es, an einem universalistischen Anspruch festzuhalten und den Rassismus auf seinen objektiven Gegenstand hin zu untersuchen.
Die Sozialwissenschaftlerin Ulrike Marz arbeitet in ihrem Beitrag hervorragend heraus, wie die Theorie der Critical Whiteness folgenschwer in ihrer Konsequenz eine Absage an universalistische Prinzipien darstellt: Das Projekt der Moderne werde einseitig als Grundlage des modernen Rassismus abgelehnt, anstatt es in seiner Dialektik zu begreifen. Marz moniert die fehlende Unterscheidung von politischem und ökonomischem Liberalismus. Die Erkenntnis, dass dem Rassismus ökonomische Konflikte vorausgehen, wird für eine Gesellschaftsanalyse geopfert, die die Grundlage der Veränderung in der Aufgabe von Privilegien zu sehen meint. Von einer radikalen Gesellschaftskritik kann insofern keine Rede sein. Nimmt man den Rassismus als partikularistische Ideologie wahr, der »die Einheit der Menschheitsgattung« bestreitet, dann gilt es gerade dann an einem Universalismus festzuhalten, der der individuellen statt der kollektiven Verschiedenheit Raum gibt. Dieser Universalismus sieht die unterschiedlichen (Diskriminierungs-)Erfahrungen und reflektiert sie am konkreten historischen und gesellschaftlichen Fall, um der Spaltung, wie sie im Rassismus angelegt ist, die Stirn zu bieten. Die Critical Whiteness indes läuft Gefahr, eben jene Spaltung zu verfestigen, obwohl sie einst angetreten war, einen essentialistischen Kulturbegriff abzulehnen. 2020 erschien von Marz eine ausführliche Kritik des Rassismus im Schmetterlingverlag.
Die Theorie des strukturellen Rassismus, so der Historiker und Geschlechterforscher Vojin Saša Vukadinović, scheitere an der Erklärung, weshalb sich Menschen freiwillig am Rassismus beteiligten. Werde hierbei vom Rassismus als Struktur ausgegangen, dann werde der Einzelne aus seiner Verantwortung genommen. Solche Ansätze könnten zwar feststellen, dass ein Großteil der Deutschen mehr oder weniger rassistischen Diskursen anhingen, aber nicht warum. Während die Kritik aufschlussreich formuliert wird, bleibt die Frage der gesellschaftlichen Hintergründe leider auch hier unbeantwortet.
Joachim Bruhn, politischer Publizist und bis zu seinem Tod 2019 Mitbetreiber des Freiburger Ça-Ira-Verlags, hat bereits in den 90ern in seinem Band »Was deutsch ist« den Rassismus aus der Kritik der Nation und der kapitalistischen Produktionsweise heraus analysiert. An diese Kritik gilt es heute wieder zu erinnern. Die Aufsätze im Kapitel »Materialistische Rassismusanalyse« kommen dem zumindest nahe. Der Rassismus wird hier in seinem historischen Werden über die Sklaverei als Herrschaftsverhältnis kapitalistischer Produktionsweise analysiert und mit einer Sozialpsychologie des Rassismus konsequent abgerundet. Interessant wäre allerdings zusätzlich eine Auseinandersetzung mit derzeitigen rassistischen Ausbeutungsverhältnissen wie beispielsweise der Ethnisierung im Niedriglohnsektor gewesen. Aufschlussreich sind die Aufsätze dennoch.
Die weiteren Kapitel in dem Sammelband beschäftigen sich mit dem Antisemitismus als Leerstelle und Problem bei heutigen antirassistischen Akteurinnen und Akteuren. Obwohl die Herausgeber*innen einleitend betonen, dass kein Anspruch auf Vollständigkeit erwartet werden darf, liefern sie ein umfangreiches Werk, das nahtlos an Vukadinovićs Buch »Freiheit ist keine Metapher« (2018) und die 2021 erstmals erschienenen »Halleschen Jahrbücher« anknüpft.
Ironischerweise wurde die Notwendigkeit dieses Sammelbands durch die Kritik an ihm im Internet bestätigt. Diese Kritik auf Twitter ging nicht über die Erwähnung der Namen in Kombination mit Bildern der Herausgeber und Herausgeberin hinaus. Suggeriert werden sollte, dass weiße Menschen sich anmaßten, über »Probleme des Antirassismus« zu schreiben. Der Flut an Kommentaren, die auch nicht mehr als Empörung und billigen Witz zu ergänzen wussten, war zu entnehmen, dass das Buch wohl von niemandem gelesen wurde, eine inhaltliche Auseinandersetzung gar nicht gewünscht war, weil das Buch von den falschen Menschen veröffentlicht wurde. Sollte es einen Nachfolger geben, wäre dies eine weitere Anekdote, mit der Küntzel seinen Text einleiten könnte.
Ingo Elbe, Robin Forstenhäusler, Katrin Henkelmann u. a. (Hg): Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik. Edition Tiamat, 592 S., br., 34 €.
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