- Politik
- Kybernetik
Von der Utopie zur Dystopie
Die Neuauflage von Norbert Wieners Buch »Mensch und Menschmaschine« lässt eine andere Bewertung der Kybernetik zu
Was man nicht im Kopf hat, das hat man in den Beinen, so die Binsenweisheit. Wer also nicht nachgedacht und etwas vergessen hat, muss halt wieder zurück, die Treppe hoch, noch einmal in die Wohnung. Kraftanstrengung muss ausgleichen, was vorher nicht gut genug geplant wurde. Norbert Wiener hätte diese Redensart vielleicht so übersetzt: Wer nicht in der Lage ist, die Informationen (Welche Gegenstände muss ich bei mir haben, wenn ich die Wohnung verlasse?) in ein Schema (Abfolge der Handlungen) zu integrieren, um daraus eindeutige Nachrichten zu generieren, produziert Unordnung, die ein größeres Maß an Energie voraussetzt (Ich renne die Treppe wieder hoch), um das Schema wiederherzustellen. Das Beispiel mag banal sein, aber das Problem dahinter ist ein gesellschaftliches: Wie ließe sich solche überflüssige Kraftanstrengung vermeiden – nicht nur individuell, durch gründlicheres Nachdenken, sondern systematisch? Wieners Lösungsvorschlag war eine neue Lehre zur Steuerung technischer und letztlich auch sozialer Prozesse – er nannte sie Kybernetik.
Der Vater der Kybernetik
Norbert Wiener – geboren 1894 in Columbia, Missouri, gestorben 1964 in Stockholm während einer Vortragsreise – verstand Kybernetik zunächst als Lehre von der Steuerung und Regelung von Nachrichten. Er wollte weg von der mechanistischen Vorstellung, dass Arbeit die Anwendung von Energie auf einen Stoff ausmacht und zeigen, dass jede Arbeit Kommunikation voraussetzt: Je besser die Kommunikation, desto müheloser und effektiver die Arbeit. Darin liegt das utopische Potential der Kybernetik. Wiener war Mathematiker, Kulturtheoretiker, Technikphilosoph. Und er war ein Wunderkind: mit 17 Jahren promovierte er in Mathematik, Studien bei Bertrand Russell und David Hilbert schlossen sich an, mit 25 wurde er Dozent, später Professor am legendären MIT, dem Massachusetts Institute of Technology. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete er für die Rüstungsindustrie. Die moderne Mathematik zur Anwendung zu bringen, stand für ihn Zeit seines Lebens im Vordergrund, sein militärisches Engagement bereute er allerdings später.
Zu einem Weltstar der Wissenschaften wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg, als er die Synthese seiner mathematischen Forschungen und philosophischen Überlegungen vorlegte und sie Kybernetik nannte, nach dem altgriechischen Wort für Steuermann. Sein populär gehaltener Abriss der Lehre mit dem Titel »Mensch und Menschmaschine« ist allein in (West-)Deutschland zwischen 1950 und 1972 fünfmal aufgelegt worden. In der DDR wurde seine Lehre – indirekt – sogar noch berühmter: Der Philosoph und Universalgelehrte Georg Klaus (1912–1974) stieß 1948 durch seinen Doktorvater Max Bense auf Wiener und arbeitete später seine Synthese kybernetischer und spieltheoretischer Ideen aus. In den 60er Jahren war Klaus nicht nur der originellste Philosoph der DDR, sondern auch enorm einflussreich. Kybernetik wurde für einige Jahre das Codewort schlechthin für Reformsozialismus: Sollte der Sozialismus doch noch eine ökonomische Chance haben, dann auf kybernetischer Grundlage. Die Experimente wurden noch unter Ulbricht abgewürgt.
Das alles ist fünfzig, sechzig Jahre her und das Versprechen der Kybernetik weitgehend vergessen. Seit einigen Wochen gibt es nuneine Neuauflage von Wieners »Mensch und Menschmaschine«, in deren Vorwort der Philosoph Peter Trawny neues Interesse für das Werk entfachen möchte. Er verweist auf die Nachrichtendienste und Tech-Giganten, die Datenströme nach intransparenten »Algorithmen« filtern, sortieren und auswerten und uns nicht als Wesen aus Fleisch und Blut, sondern buchstäblich als Aggregate von empfangenen und gesendeten Nachrichten lesen. Müssen wir uns da nicht wieder mit der Lehre auseinandersetzen, mit der diese Entwicklung scheinbar ihren Ursprung nahm?
Die Abschaffung der Maloche
Diese Deutung der Kybernetik führt jedoch in die Irre. Kybernetik existiert heute – zumal im linken Bewusstsein – meist nur als Gerücht: vage gilt sie als Ideologie der Kontrolle, deren technizistisches Menschenbild uns dem Bauplan der Maschinen angleiche. In einem jüngst erschienenen Interview kritisierte etwa die feministische Philosophin Tove Soiland die herrschende Psychologie und Gesundheitspolitik dafür, dass »sich ein mechanistisches Menschenbild« durchsetze, in dem »der Mensch als ein kybernetisch zu steuernder Organismus« gelte.
An Norbert Wieners Vorstellung der Kybernetik kann ein solcher Vorwurf nicht gerichtet sein: Er konzipierte sie explizit als Kritik dieses Menschenbildes. Wiener arbeitete heraus, dass lebendige Systeme offen und kontingent und damit gerade nicht geschlossen und deterministisch sind. Kybernetik ist die Lehre des sich selbst korrigierenden Mechanismus, und dies setzt aber Eigensinn voraus. Der Mathematiker verstand formale Logik als Erfindung der menschlichen Kreativität, die sie durch Geschick, Erfahrung und Zielstrebigkeit anwendet. Er war entsetzt, dass seine Überlegungen zur Selbststeuerung etwa in der Lenkwaffentechnologie angewendet wurden. 1947 outete er sich spektakulär in einem offenen Brief als Antimilitarist und verweigerte fortan die Zusammenarbeit mit militärischen Institutionen.
Wiener meinte in der Kommunikation der Maschinen untereinander die gleichen Vorgänge zu entdecken wie in der von Mensch zu Maschine – und von Mensch zu Mensch. Aber nicht die Angleichung der arbeitenden Menschen an ein immer höher entwickelteres Maschinensystem schwebte ihm vor, sondern das Gegenteil, nämlich die Abschaffung von Maloche. Er nahm Kontakt mit linken Gewerkschaftern auf, um mit ihnen der »wissenschaftlichen Betriebsführung« des Managements – die Zergliederung aller Arbeitsvorgänge in genau kontrollierbare und monetär kalkulierbare Einzelschritte – Modelle der Arbeiterkontrolle entgegenzusetzen: eine Technologie, die den Arbeiter*innen Autonomie über ihre Tätigkeiten verleiht. In der zunehmenden Skepsis, mit der Ende der 60er Jahre die DDR-Führung der Kybernetik begegnete, schwingt die Furcht vor solcher Selbstbestimmung mit. Subversive Ökonomen wie Fritz Behrens entdeckten in der Implementierung von Selbststeuerungsprozessen auf betrieblicher Ebene die Chance für eine wahre Räteherrschaft der Arbeiter*innen, während die Dogmatiker instinktsicher feststellten, dass zu viel Kybernetik-Einsatz die Parteiherrschaft bedrohen würde.
Wiener war kein Revolutionär, seine Vorstellung, den militärisch-industriellen Komplex gewissermaßen durch Intelligenz zu überlisten mag naiv gewesen sein. Aber er war ein radikaler Humanist, worauf schon der englische Titel von »Mensch und Menschmaschine« verweist: »The Human Use of Human Beings« heißt das Werk im Origingal – der menschliche Gebrauch von Menschen.
Fortschritt durch Information
Der Titel ist nicht der einzige Missgriff der deutschen Ausgabe. Schlägt man das Verzeichnis auf, fehlt ein entscheidendes Stichwort: Arbeit. Dabei ist der kritische Blick auf Arbeit zentral für Wiener: für ihn war sie mühevolle und anstrengende Tätigkeit, die es zu verringern gilt. Wiener wendet sich gegen die Überlieferung eines »Was man nicht im Kopf hat, das hat man in den Beinen«. Er demonstriert das am Beispiel der Schifffahrt.
Die Kybernetiker – wortwörtlich: die Steuermänner – konnten sich bereits zu einem historisch sehr frühen Zeitpunkt am Polarstern orientieren, das heißt sie orientierten sich nach Breitengraden. Hingegen war eine Steuerung nach Breiten- und Längengraden bis ins 18. Jahrhundert mathematisch-technisch nicht möglich. Nachdem Schiffe den Heimathafen verlassen hatten, segelten sie so lange an der Küste entlang, bis sie den gewünschten Breitengrad erreicht hatten und stachen dann erst in die offene See. Trafen sie dann auf Land, orientierten sie sich wieder an der Küste, um schließlich zum Ziel zu gelangen. Eine umständliche, kraftraubende Operation und dazu militärisch stets gefährlich. Erst die Entdeckung, bestimmte Informationen anwenden zu können – die Welt nicht nur nach Breiten-, sondern ebenso nach Längengraden zu kartografieren und damit in Nachrichten zu übersetzen, die der Steuermann zu lesen weiß –, brachte den Fortschritt.
Die klassische Vorstellung, Arbeit bestehe im Austausch von Energie und Materie, hob Wiener in dem Programm auf, dass sie zunehmend auf der Steuerung von Informationen beruht. Wieder nennt er ein einfaches Beispiel: die Architektin, die nicht vor Ort sein muss, um den Bau zu überwachen, sondern dank moderner Technologien der Nachrichtenübermittlung – er spricht, für uns heute skurril, vom Ultrafax – Pläne schicken und umgekehrt zurückgemeldete Änderungen sofort einarbeiten kann.
Kybernetik nach Wiener ist damit weniger eine Lehre, sondern ein Prinzip, das er als die positive Seite des Fortschritts entdeckte. Dass Kybernetik später rasant an Glanz verlor, lässt sich sogar schon »Mensch und Menschmaschine« entnehmen. Streng genommen ist es kein Lehrbuch, sondern eine Kultur- und Technikgeschichte, aus der Wiener das Prinzip der Information und ihrer Regulierung gewinnt und an unzähligen Beispielen vorführt. Allein, dieses Prinzip kann – etwa in der Marktforschung, der Waffen- und Biotechnologie – so angewendet werden, dass die Inhaber dieser Produktivkräfte maximale Kontrolle über etwa Konsumierende, die gegnerische Armee oder die Volksgesundheit anstreben können. Das offene Prinzip der Kybernetik schlägt um in eine neues deterministisches Prinzip, aus der Utopie wird eine Dystopie. Wiener war sich dessen durchaus bewusst, steht diesem dystopischen Potenzial aber recht hilflos gegenüber. Vor allem befürchtete er eine ökologische Katastrophe.
Immerhin besteht er überzeugend darauf, dass jede Einschränkung der Kybernetik auf diese Kontrollfunktion ein politischer Akt ist. Kontrolle und Überwachung ergeben sich nicht naturwüchsig aus einem technologischen Dispositiv. Dystopische Entwicklungen müssten, so Wiener, politisch und sozial abgewehrt werden. Dabei kann eine smarte Technologie, wie die Kybernetik, helfen, aber eine Erfolgsgarantie liefert sie nicht. Unsere Zukunft wird also politisch entschieden, das wäre die immer noch dringliche gültige Botschaft dieses Buches.
Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine. Klostermann, 216 S., br., 22,80 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.