»Wendepunkt« für China

Bevölkerung schrumpft erstmals seit 1961

  • Andreas Landwehr
  • Lesedauer: 4 Min.

Chinas Bevölkerung ist im vergangenen Jahr erstmals seit sechs Jahrzehnten geschrumpft. Ende Dezember habe das bevölkerungsreichste Land der Welt 1,411 Milliarden Einwohner gehabt und damit rund 850 000 weniger als ein Jahr zuvor, teilte das Statistikamt in Peking am Dienstag mit. Experten sprechen von einem »Wendepunkt« in Chinas Geschichte und warnen vor verheerenden Folgen einer »unvorstellbaren« Bevölkerungskrise.

»Chinas demografische und wirtschaftliche Aussichten sind düsterer als erwartet«, meint der US-Sozialwissenschaftler Yi Fuxian von der Universität von Wisconsin. »China wird eine Schrumpfung durchlaufen müssen.« Auch müsse es seine Sozial- und Wirtschaftspolitik ändern. Auf den Überschuss an Werktätigen, der Chinas Wirtschaftswunder als »Werkbank der Welt« angekurbelt habe, folge jetzt Arbeitskräftemangel. »Chinas Produktionssektor wird unterbesetzt und überaltern – und so schnell abnehmen wie der Japans«, so Yi Fuxian.

Historischer Tiefpunkt bei Geburten

Es war der erste Bevölkerungsrückgang seit 1960 und 1961, so das Statistikamt, ohne die Zahlen zu kommentieren. Damals waren in verheerenden Hungersnöten viele Millionen Menschen ums Leben gekommen – eine Folge der Industrialisierungskampagne des »Großen Sprungs nach vorn« von Mao Tsetung.

Die Geburtenrate lag im vergangenen Jahr nur noch bei 6,77 Neugeborenen auf 1000 Menschen – ein historischer Tiefpunkt. Erstmals in der Geschichte der Volksrepublik lag die Zahl der Geburten unter 10 Millionen. Nur 9,56 Millionen Babys wurden geboren, während 10,41 Millionen Menschen starben, wie das Statistikamt berichtete. Die Sterberate habe bei 7,37 auf 1000 Menschen gelegen; damit ergebe sich ein Bevölkerungswachstum von minus 0,6 auf 1000 Menschen.

Forscher Yi Fuxian verfolgt seit langem die chinesische Bevölkerungsentwicklung und hält auch die jetzigen Zahlen unverändert für geschönt. Nach seinen Berechnungen schrumpft die chinesische Bevölkerung sogar schon seit vier Jahren. Immerhin sieht er ein offizielles Eingeständnis, dass der Rückgang rund zehn Jahre früher eingetreten ist als bisher von der Regierung vorhergesagt. Anders als bei den Hungersnöten 1960 und 1961 sei der Trend jetzt allerdings »unumkehrbar«, meint Yi Fuxian.

Unaufhaltsam gehen seit Jahren die Geburtenzahlen zurück, während die Gesellschaft überaltert. Die Auswirkungen der seit 1979 verfolgten »Ein-Kind-Politik« werden immer spürbarer. Die Aufhebung der umstrittenen Geburtenkontrolle führte 2016 nur kurzzeitig zu einem leichten Anstieg der Geburtenrate. Nur ein Kind zu haben, ist in China heute die soziale Norm. Zwei Generationen haben es nie anders erlebt, sodass es tief in der Gesellschaft verankert ist.

Forscher erwartet Rentenkrise

Experten halten die hohen Kosten für Wohnung, Bildung und Gesundheit sowie die schwindende Heiratsbereitschaft für wesentliche Gründe dieser Entwicklung. Die andauernde Corona-Pandemie und hohe Arbeitslosigkeit gerade unter jungen Menschen schufen weitere Unsicherheiten, die den Trend beschleunigt haben dürften. Knapp jeder fünfte junge Mensch zwischen 16 und 24 Jahren ist in Chinas Städten ohne Job.

Aufgrund des Geburtenrückgangs und der rapiden Überalterung wurden 2021 auch drei Kinder erlaubt. Außerdem bemüht sich die Regierung seither, es jungen Paaren leichter zu machen, für Kinder zu sorgen. Kosten für Kindergärten und Schulbildung wurden gesenkt, Finanzhilfen gewährt, Mutterschafts- und Elternurlaube erleichtert. Viele Frauen befürchten, dass sich eine Mutterschaft negativ auf die Berufskarriere auswirkt.

Die Folgen der Bevölkerungskrise für die zweitgrößte Volkswirtschaft sind enorm. Immer weniger Werktätige müssen immer mehr alte Leute versorgen. Jeder fünfte Chinese ist heute älter als 60 Jahre. Unterstützten 2020 fünf Beschäftigte zwischen 20 und 64 Jahren einen älteren Menschen über 65 Jahre, werden es 2050 nur noch 1,5 Arbeitnehmer sein. »Ohne soziales Netz, ohne die Sicherheit der Familie wird sich eine Rentenkrise zu einer humanitären Katastrophe entwickeln«, warnt Forscher Yi Fuxian. dpa/nd

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