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Gelesen - dabei gewesen

Neuerscheinungen, annotiert: Mit dem Körper schreiben, Tauschwert statt Gebrauchswert und eine Erinnerung an Henri Bergson

  • Nico Daniel
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn Körper schreiben

Was für ein Programm! In der neuen Ausgabe der Leipziger Literaturzeitschrift »Edit«, immer noch eine freiesten und anregendsten der Republik, »schreiben die Körper selbst«, so wird im Editorial behauptet: »Als fiele das descartsche entkoppelte, körperloser Denken und vollkommen vergeistigte (allenfalls knöcherne oder noch eher elfenbeinfarbene) Narrativ endlich von uns ab und enthüllte darunter die weiche Haut, das rohe Fleisch und die vielen Ein- und Übergriffe, die sie in ihrer Zurichtung erlitten haben.« Da geht es auch um die alte Frage seit den 70er Jahren: »Sind Programmiersprachen für emotionale und affektive Aspekte offen? Kann man, zugespitzt formuliert, Pathos programmieren?« Früher war das eher Science Fiction, heute ist das eher Gegenwart. Der entsprechende Besinnungsaufsatz von Hannes Bajohr heißt »Pathos, Vektoren, Nebel« – eigentlich auch ein guter Titel für ein Popmusikalbum, oder? Und hier die Antwort auf die Eingangsfrage: Nein. Denn »Pathos wäre gerade nicht ›programmierbar‹, sondern ›extrahierbar‹«, meint Bajohr. Patricia Doberschütz behauptet ganz nüchtern: »Ich erzähle mich nicht. Ich erzähle mich mal so, mal so. Also erzähle ich mir jeden Tag mindestens einmal, wer ich bin.« (Die Satzzeichen müssen Sie sich wegdenken). Und Cecilia Joyce Röski stellt sich als »Freierin« die Frage, was es bedeutet, »dass Maria Magdalena und ich uns in »gnostischer Tradition küssen?«. Zusatzfrage: »Ab wann ist es Sex?« 

Edit, Nr. 87, 126 S., 9 €.

Gewöhnlich werden

»Was ist in den letzten 25 Jahren bloß passiert?« fragt Karin Fleischhanderl in der neuen Ausgabe der Wiener Literaturzeitschrift »Kolik«. Es geht um die Literaturwelt. Hat dort die Postmoderne wie vorausgesagt gesiegt? War das »Neue Erzählen« erfolgreich, wurde das »Sprachkritische, Sprachbewußte« aufgegeben zugunsten der reinen Geschichtenerzählerei? Antwort: »Literatur ist etwas Gewöhnliches geworden – und erfüllt somit (genauso wie die Bildung) den Anspruch auf Demokratisierung (…) Künstler und Rezipient befinden sich auf Augenhöhe, alle können mitmachen.« Anders gesagt: »Die Hölle ist leer und alle Teufel sind hier – oder doch eher die Kasperln?« Denn »Aufmerksamkeit wird ohnehin ausschließlich aufgrund außerliterarischer Qualitäten generiert: (…) reiner Tausch-, null Gebrauchswert.«

Kolik, Nr. 92, 176 S., 10 €.

Dauer und Weile

Wie kommt es, dass einem der Rückweg meistens kürzer vorkommt als der Hinweg, auch wenn er genauso lang dauert? Wie entwickelt sich das Lebendige im Gegensatz zur anorganischen Materie – gibt es da eine geheime Kraft und gar einen Willen? Begreift man den Raum anders als die Dauer? Für solche Fragen hat der französische Philosoph Henri Bergson (1859–1941) ein paar »Prozessbegriffe« entwickelt, eine Art Metaphysik der Realität, die früher einmal sehr einflussreich war. Wieso, weshalb, warum – darüber schrieb sein Schüler und Freund, der Pariser Philosoph Vlademir Jankélévitch (1903–1985) seine Würdigung »Henri Bergson«, die 1931 zuerst erschien und dann in überarbeiteter Fassung noch einmal 1959 und nun noch einmal aufgelegt wurde, ergänzt um einige Briefe Bergsons an den Autor. Es geht hier um Körper und Geist, Freiheit und Evolution, Liebe und Freude, Erinnerung und Einfachheit. Merke: »Eine tiefgründige Wissenschaft kommt nicht ohne große Unschuld aus.«

Vlademir Jankélévitch: Henri Bergson. A. d. Franz. v. Ulrich Kunzmann. Suhrkamp, 635 S., geb., 38 €.

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