Nicht mehr genug im Tank

Neuseelands Ministerpräsidentin Jacinda Ardern tritt vor anstehender Wahl zurück

  • Carola Frentzen und Rebekah Lyell
  • Lesedauer: 5 Min.

Überraschende politische Wendung in Neuseeland: Unter Tränen hat Ministerpräsidentin Jacinda Ardern am Donnerstag ihren Rücktritt angekündigt. Bis spätestens 7. Februar werde sie ihr Amt aufgeben, sagte die 42-Jährige vor Journalisten. »Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe. So einfach ist das«, begründete sie den Schritt. Mehrmals brach ihr die Stimme weg. »Wir alle geben, solange wir geben können, und dann ist es vorbei. Und für mich ist es nun an der Zeit.« Im Pazifikstaat gibt es derweil Spekulationen über ihre Nachfolge.

Einer der ersten, der Arderns Leistungen würdigte, war Australiens Premierminister Anthony Albanese. »Jacinda Ardern hat der Welt gezeigt, wie man mit Intellekt und Stärke regiert«, schrieb er auf Twitter und nannte sie eine »Inspiration«. Sie habe bewiesen, dass Mitgefühl und Verständnis starke Führungsqualitäten seien.

Der richtige Ton in Krisenzeiten

Damit spielte er vor allem auf die viel gelobte Reaktion der jungen Ministerpräsidentin auf das horrende Attentat eines Rechtsextremisten aus Australien in der Stadt Christchurch an. Im März 2019 erschoss er dort in zwei Moscheen 51 Muslime. Die Bluttat entsetzte die Welt.

Ardern hatte in den Folgetagen dunkle Augenringe, aber sie zeigte, was Empathie und Präsenz in Krisenzeiten bedeuten. Sie umarmte Muslime, sprach mit Hinterbliebenen, traf den richtigen Ton. »Er wollte viele Dinge mit seinem Akt des Terrors erreichen. Eines davon war, berühmt zu werden. Deshalb werden Sie von mir niemals seinen Namen hören«, sagte sie. Für diese Worte bekommt sie weltweit Anerkennung. Seinen Namen hat sie tatsächlich nie ausgesprochen.

Ein Rückblick: Mit 37 Jahren wird die Labour-Politikerin 2017 die damals jüngste Ministerpräsidentin der Welt. In nur wenigen Monaten bringt sie es von der Vize-Oppositionsführerin zur Regierungschefin. Ihr kometenhafter Aufstieg trug einen Namen: Jacindamania. Aus der Parlamentswahl 2020 geht sie erneut als große Siegerin hervor. Das Parlament in Wellington ist seither divers wie nie. Zum Kabinett gehören zahlreiche Frauen sowie mehrere Maori und LGBT (Schwule, Bisexuelle und Transgender). Ardern selbst erscheint 2018 zu einem Dinner im Buckingham Palace in London in einem Maori-Federmantel.

Zeit für die Familie

Als im Juni 2018 ihre Tochter Neve zur Welt kommt, ist sie die erste Regierungschefin seit Jahrzehnten, die während ihrer Amtszeit Mutter wird. Mit Neves Vater, dem Journalisten Clarke Gayford, ist Ardern seit 2013 zusammen.

Aber sie macht auch nie einen Hehl daraus, dass es schwierig ist, Politik und Privatleben unter einen Hut zu bringen. Große Sympathien erntet sie, als sie bei einem Livestream von ihrer damals dreijährigen Tochter unterbrochen wird. Ardern spricht gerade in einer Facebook-Videobotschaft über neue Corona-Regeln, als im Hintergrund plötzlich die Stimme des Mädchens zu hören ist. »Du solltest im Bett sein, mein Schatz«, sagt Ardern lachend. »Es ist Schlafenszeit. Ich komme gleich und schaue nach dir.«

Bereits 2019 kündigten Ardern und ihr Lebensgefährte an, heiraten zu wollen. Auch das hat bislang nicht geklappt. Lächelnd sagte sie am Donnerstag, sie freue sich darauf, wieder Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, die wohl am meisten unter ihrem Amt gelitten habe. »Also, an Neve: Mama freut sich darauf, dieses Jahr mit dabei zu sein, wenn Du eingeschult wirst. Und zu Clarke: Lass uns endlich heiraten!«

Denn dafür fehlte wohl die Zeit: In Neuseeland gab es zuletzt gleich mehrere schwere Krisen. Neben den Attentaten von Christchurch war das vor allem ein massiver Vulkanausbruch auf der Insel White Island im Dezember 2019, bei dem mehr als 20 Menschen starben, darunter mehrere deutsche Touristen. Nur wenige Monate später brach Corona aus.

Neuwahlen im Oktober

Arderns Regierung reagierte mit einer der strengsten Ausgangssperren der Welt und riegelte das Land für ausländische Besucher ab. Das Resultat: Neuseeland kam lange sehr glimpflich durch die Krise. Aber es regte sich auch Widerstand gegen die Abschottung. Nach eineinhalb Jahren musste auch Ardern eingestehen, dass die »Null-Covid-Strategie« nicht funktioniert. 2021 wurde sie beendet.

Wer wird nun regieren, bis das Land am 14. Oktober zu den Urnen geht? Schon am Sonntag soll ein neuer Vorsitzender der Labour Party gewählt werden. Vize-Regierungschef Grant Robertson und Vize-Labour-Chef Kelvin Davis erklärten bereits, dass sie für das Amt des Ministerpräsidenten nicht zur Verfügung stehen. Beobachter nennen Chris Hipkins (44), der während der Coronakrise der Minister zur Eindämmung der Pandemie war, sowie Justizministerin Kiri Allan (39).

Ardern sagte: »Man kann und sollte den Job nur machen, wenn man einen vollen Tank hat, plus ein bisschen Reserve für die ungeplanten und unerwarteten Herausforderungen, die unweigerlich kommen.« Ihr Tank ist leer, aber Neuseeland hat viele junge Kräfte mit genug Sp(i)rit. dpa/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.