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»Mein Fleiß ist verwandelte Angst«
Wie arbeitet ein Schriftsteller? Ein Gespräch mit Wilhelm Genazino, als er 2004 den Georg-Büchner-Preis bekam
Sie schreiben, dass jeder seinen Eltern Vorwürfe macht, weil er nicht gefragt wurde, ob er auf der Welt sein wollte. Haben Sie die Kindheit als Kränkung erfahren?
Am kommenden Sonntag wäre der Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino 80 Jahre alt geworden. Bekannt wurde er mit der »Abschaffel«-Trilogie in den 70ern, erfolgreich erst 2001 mit dem Roman »Ein Regenschirm für diesen Tag«. Er starb 2018. »Fiele morgen die Entscheidung, dass Wilhelm Genazinos pathosfreie Romane verfilmt werden sollen, so wünschte man, der wunderbare Filmregisseur Jacques Tati lebte noch und hätte Gelegenheit dazu«, schrieb Thomas Blum in dieser Zeitung. Ersatzweise veröffentlichen wir Auszüge aus einem längeren Gespräch, das Frank Schäfer 2004 mit dem Schriftsteller geführt hat, als er nach Jahrzehnten des Ignoriertwerdens den Büchner-Preis bekam.
Mehr oder weniger. Ja. Natürlich auch aus anderen Gründen.
Können Sie die nennen?
Ja, etwa die völlige Erfolglosigkeit meines Vaters, der gescheiterter Erfinder war. Der hat etwas Todtrauriges gemacht, nur als Beispiel: eine Maschine erfunden, die es schon gab. Er war eben nicht nur ein Erfinder, sondern auch ein Totalträumer, der hat sich nicht einmal erkundigt, ob es das nicht schon gibt. Na ja, das ist natürlich schon eine Grundmelancholie, die sich über unsere Familie gelegt hat. Man steckt da in einem Automatismus drin und merkt das seine halbe Kindheit gar nicht. Man ist schon ein paar Jahre in der Schule und dann fällt einem plötzlich auf: Mensch, du willst doch gar nicht hier sein. Aber ich verurteile das alles gar nicht, jedenfalls nicht mehr. Inzwischen sehe ich ja auch, dass dieser Schmerz mich individuiert. Er ist natürlich ein wesentlicher Teil meines Ich-Kerns geworden. Das wäre alles unterblieben, wenn das glatt abgelaufen wäre. Insofern muss man auch zugeben, dass falsche Schritte im Nachhinein zu richtigen werden können.
Das macht die Kränkung aber nicht vergessen.
Nein, aber man kriegt ein kameradschaftliches Verhältnis dazu.
Reden wir über Ihre Arbeitsweise. Wie entsteht eine Seite Genazino-Prosa? Sie schreiben mit Schreibmaschine, wie ich sehe.
Ja. Vor allem weil ich nicht an ein Gerät angeschlossen sein will, und weil ich bei meinem geringen Ausstoß, höchstens zwei Seiten an einem Tag, einen Computer einfach nicht brauche. Zuvor gibt es meist eine handschriftliche Version, die Erstfassung sozusagen. Wenn ich etwas aufgeschrieben habe mit der Hand, dann kommt in der Regel schon nach einer Woche die erste maschinengeschriebene Fassung. Und das ist dann schon eine stark bearbeitete Version des handschriftlichen Textes, da fließt natürlich sofort mit ein, was ich aus der Sache machen will. Das geht dann schon ganz stark in Richtung des Produkts.
Diese Richtung hatte die handschriftliche Version noch nicht?
Noch nicht. Häufig schreibe ich mir etwas auf, was ich gerade sehe und was mir gerade einfällt. Damit ich das nicht vergesse. Das ist dann auch noch nicht bearbeitet. Gerade Wahrnehmungen aus dem Minimalbereich, das ist ja auch das, was mich interessiert: Sachen, die dem heute normal lebenden Menschen nicht mehr auffallen, weil er sie viel zu sehr planiert hat. Das ist längst Trittmasse geworden, auf die die Menschen drauftreten, da wird nicht mehr besonders hingeschaut. Um mal ein Beispiel zu nennen: Man steht auf der Rolltreppe in irgendeinem Kaufhaus und hat die Hand auf dem Handlauf, und man merkt nach kurzer Zeit, der Handlauf geht schneller als die Treppe. Das ist mir jahrzehntelang nicht wirklich aufgefallen, neulich aber habe ich die Hand wieder zurückgezogen, ich wollte den Arm wieder im richtigen Winkelverhältnis haben – und da wurde das plötzlich zum Symbol für zwei Geschwindigkeiten, also dass man durchs ganze Leben geht in zwei Geschwindigkeiten. Wie wunderbar beiläufig und doch präzise die Rolltreppe das ausdrückt.
Die Reflexion beziehungsweise Interpretation des Gesehenen findet die schon statt beim Betrachten?
Nein, das ist mir zu Hause am Schreibtisch eingefallen. Erst als ich diese Beobachtung aufgeschrieben und abends dann in meine Mappen eingeordnet habe, fiel mir das auf. Und da kommt es dann ja zu einer inneren Vervielfältigung eines einzigen Details, es kommt dann ein ganzer Schweif von Reflexionsmaterial plötzlich dazu, bei einem vollkommen lächerlichen Moment.
Sie archivieren solche Kleinstbeobachtungen in Mappen?
Ich habe Ordner, in denen ich unter einer fortlaufenden Code-Nummer diese Notizen gleich abschreibe, und die kriegen auch gleich eine kleine Überschrift. Dieses Detail, von dem ich Ihnen eben erzählt habe, bekommt etwa die Überschrift »Kaufhausrolltreppe«. Wenn ich also an einem Buch sitze und ich brauche irgendetwas zum Kaufhaus, dann finde ich es so und kann prüfen, passt das hierher, kann ich das jetzt gebrauchen oder nicht. Das schätze ich sehr, ich möchte wählen können, ich möchte aus der Fülle schöpfen können.
Das überrascht mich etwas, weil Ihre Romane, auch wenn sie vom kleinen Detail ausgehen, eigentlich nicht collagiert, montiert anmuten.
Das möchte ich auch nicht. Das Material muss ineinander verschraubt sein, es muss eine Dichte ergeben. Man soll denken, das ist alles genau so abgelaufen. Kein großer Autor hat das aus dem Kopf so hinschmettern können. Nehmen wir Joyce oder Musil, die hatten alle ihre Tagebücher oder Materialsammlungen der verschiedensten Art, das geht auch gar nicht anders. Das ist eine Laien-Meinung, zu denken, die setzen sich da hin und dann küsst sie die Muse und dann geht’s los. Sehen Sie, man sitzt da, man weiß nichts, man behauptet, man sei ein Schriftsteller – wenn ich jetzt nicht mein Material hätte, würde ich ganz schön auf dem Trocknen sitzen. Und dagegen ist das im Grunde eine Verwahrungsaufgabe, die dieses Material wahrzunehmen hat. Dass man seinen De-facto-Zustand, nämlich die Voraussetzungslosigkeit, aushalten kann. Das ist fürchterlich, und dagegen muss man ja was tun.
Sie haben mal geschrieben, dass Literaturpreise für Autoren bisweilen zu spät kämen, sodass die eigentlich erwünschte Ehrung überdeckt werde von negativen Konnotationen. Kommt der Büchner-Preis für Sie noch rechtzeitig?
Ja, Gott, er ist wohl noch zur rechten Zeit gekommen. Noch bin ich ja unter den Lebenden und muss nicht im Rollstuhl hingeschleppt werden, insofern habe ich noch etwas davon, und es kommt auch meinem unmittelbaren Alltag noch zugute. Aber es gibt ja Autoren, die mittlerweile eindeutig zu alt sind, denen man diesen Preis einfach nicht mehr zumuten kann, man muss sie geradezu verschonen von dem Preis, weil die Häme und die zwiespältigen Kommentare dann zu krass im Raum stünden und sie dann kränken würden.
Und was bedeutet der Preis für Sie?
Er beruhigt mein Misstrauen und die Vorbehalte gegen meine eigene Existenz. Aber ich weiß natürlich auch durch die Kenntnis anderer Autorenbiographien, dass das noch nicht das letzte Wort sein muss, dass ein Autor auch immer noch sehr schnell verschwinden kann von der Bildfläche. Denken Sie an Heinz Piontek, der vor Kurzem gestorben ist, den kennt heute keiner mehr, genauso Ernst Kreuder, ein hervorragender Autor, auch Büchner-Preisträger. Und daher habe ich so eine Art grundsätzliches Misstrauen gegen diesen Beruf, den ich ausübe, das lässt jetzt etwas nach, aber ich merke trotzdem immer noch, wie das arbeitet. Ich merke es zum Beispiel daran, dass ich, kaum habe ich ein Buch abgeschlossen, schon das nächste anfange. Das ist für mich ein Hinweis, dass ich mich nicht richtig wohlfühle in der Rolle von jemandem, der eine längere Pause macht. Es gibt von mir diesen kleinen Aphorismus, der fällt mir jetzt natürlich nicht zufällig ein: »Mein Fleiß ist verwandelte Angst.« Genau das ist es. Man wird sowieso misstrauisch, wenn man die meiste Zeit seines Lebens ein eher wenig beachteter Autor war. Was soll man von einer literarischen Gesellschaft halten, die bis zum 60. Lebensjahr eines Autors sagt, na ja, auch so ein Schriftsteller, und jetzt plötzlich kommen die Kübel mit weißer Schokolade?
Sie galten ja lange Zeit als literarischer Außenseiter. Warum eigentlich? Ihre Essays erscheinen in den großen Feuilletons, Ihre Bücher werden ebendort besprochen …
Ich bin kein Talkshow-Mensch, ich bin in keinen Preis-Jurys und bin auch nicht als Event gebräuchlich, weil ich so ein munterer Plauderer wäre. Ich empfinde das im Übrigen auch so, ich nehme auch nicht teil an solchen Feuilleton-Festspielen, etwa an diesen Umfragen.
Sie setzen sich ungern der Masse aus. Irgendwo habe ich gelesen, dass sie es grundsätzlich ablehnen, ein Stadion zu besuchen, obwohl Sie sich durchaus für Fußball interessieren. Diese Probleme mit dem Aufgehen im Kollektiv haben offenbar nicht nur Ihre Romanhelden.
Wobei ich das gar nicht in der Hand habe, das ist nichts Gewähltes, sondern ich kriege physische Beklemmungen. Meine Physis zeigt mir an, entferne dich von hier, das ist nicht gut für dich. Etwa die Zeil in Frankfurt, die kann ich mir wirklich nicht mehr antun, oder in Köln die Hohe Straße, die ist ja noch viel grauenhafter. Horrorstraßen. Rätselhaft ist mir nur, warum die so beliebt sind. Es sind natürlich genau die Leute dort, die dahin passen. Die empfinden keinerlei Beklemmung über die Verramschung ihres Ichs. Das wäre so mein Eindruck. Ich würde denken, wenn ich jetzt noch fünf Minuten länger hier bin, dann liege ich in einem der Schaufenster drin, dann kann man mich auch kaufen für drei Euro.
Der Subtext Ihrer Bücher ist dementsprechend antikapitalistisch. Die bürgerlichen Karriere- und Erfolgsmodelle werden von Ihren Helden nachgerade systematisch gemieden, die arbeitskrafterhaltenden Erholungs- und Freizeitangebote diffamiert.
Ja. Denn es ist genauso gekommen, wie Adorno und Horkheimer es prophezeit haben in dem Kulturindustrie-Kapitel der »Dialektik der Aufklärung«. Wenn die das sehen würden, was da heute so los ist, es ist ja noch viel krasser ausgefallen. Zum Beispiel die ungeheure Macht der Unterhaltung, die immer noch wächst. Die Schriftsteller sind ja bloß noch so eine Art Exilverein.
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