- Politik
- Frauen in Rojava
Jin Jiyan Azadî
Seit Beginn der Revolution in Nordsyrien 2012 hat sich die Rolle der Frauen in der Region grundlegend verändert. Ein Besuch in Rojava
Cewher, Vorsitzende der Frauenkooperativen im Bezirk Hesekê
Vor der Revolution, während des Assad-Regimes, waren die meisten Frauen zu Hause. Es gab ein paar wenige, die im Büro gearbeitet haben, aber dennoch die ganze Hausarbeit zu erledigen hatten. So etwas wie jetzt, dass Frauen kollektiv und sich gegenseitig unterstützend in einer Kooperative arbeiten, wäre vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen.
Wir Frauen sind ein Teil der Gesellschaft geworden. Wir haben auch eigene ökonomische Strukturen aufgebaut. Ein wichtiger Meilenstein sind die Frauenkooperativen. In Hesekê gibt es solche Kooperativen in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung und Textilproduktion. Da arbeiten eher ältere Frauen, die von ihren Familien verstoßen wurden, die keinen Schulabschluss machen konnten oder es schwer haben, einen Job zu finden.
In den Kooperativen werden alle Entscheidungen gemeinsam getroffen. Wir haben viele Ideen, und es geht uns nicht nur um Profitmaximierung. Uns kommt es darauf an, weitere Frauen zu ermutigen, sich finanziell unabhängig zu machen. Außerdem liegt unser Fokus auf Weiterbildung.
Weil Frauen jetzt zur Arbeit gehen, verändert sich oftmals ihre Rolle in der Familie. Vor der Revolution hat mein Mann gearbeitet, ich war zu Hause. Heute kann er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten, dafür gehe ich zur Arbeit. Wir helfen einander und unser Umgang miteinander ist nun auf Augenhöhe. Inzwischen bekomme ich morgens den Abschiedskuss. Das finde ich richtig gut.
Dicle, Journalistin bei Jin-TV
Dass es hier in Nord- und Ostsyrien einen Frauenfernsehsender gibt, hat eine große Bedeutung. In anderen Redaktionen werden Frauen nur als Moderatorinnen eingesetzt oder als Statistinnen, die vermeintlichen Schönheitsidealen entsprechen. In der Technik, bei redaktionellen Entscheidungen oder in anderen verantwortungsvollen Bereichen dürfen sie meist nicht dabei sein. Das ist beim Frauenfernsehsender Jin-TV komplett anders. Hier arbeiten keine Männer. Von Kamera über Redaktion und Programmplanung bis hin zu technischer Ausführung werden alle Aufgaben von Frauen übernommen.
Bevor die Kolleginnen bei Jin-TV angefangen haben, waren viele von ihnen Hausfrauen. Sie wurden dann hier von anderen Frauen ausgebildet. Am Anfang haben sich einige nicht getraut, die Arbeit selbstständig durchzuführen oder sich für Filmaufnahmen unter Menschen zu begeben. Mit unserer Arbeit bei Jin-TV haben wir gezeigt, dass Frauen alles umsetzen können, was sie wollen. Das war für alle Beteiligten ein großer Schritt. Ihr Selbstvertrauen ist hier enorm gewachsen.
Der große Facettenreichtum der Frauen war in der patriarchalen Gesellschaft verkümmert und eingestaubt. Wir versuchen, diesen Staub abzuklopfen und das, was verlernt und vergessen wurde, zurückzubringen – in unsere Berichterstattung und unser Leben. Denn Frauen sind das Leben, und wir versuchen, all die Farben dieses Lebens wieder glänzen zu lassen.
Da Frauen weltweit unterdrückt werden, hoffen wir, dass die Frauenrevolution in Rojava auf die ganze Welt ausstrahlt. Wir wünschen uns, dass sich alle Frauen gegenseitig unterstützen und die Gleichstellung in allen Regionen dieser Welt vorangeht.
Zeyneb, Autonomes Frauendorf Jinwar
Ich komme aus einem Dorf in den kurdischen Gebieten der Türkei und bin dort mit 15 oder 16 Jahren verheiratet worden. Ich habe mich damals noch wie ein Kind gefühlt. Der Mann, den ich heiraten musste, war viel älter. Ich war die vierte und jüngste Frau von ihm. Ich sollte immer im Haus bleiben. Er hat mich geschlagen, ich habe schlimme Gewalt von ihm erfahren. Ich wollte nicht mehr weiterleben. Nur weil ich schwanger war, habe ich mich doch dafür entschieden.
Ich habe meinen Mann und meine Familie verlassen, bin nach Nordsyrien geflohen und habe in einer Zeltstadt für Geflüchtete gewohnt. Mit meinem kleinen Sohn war ich allein. Ich hatte nicht mal Kleidung für ihn. Dann wurde mir vom Frauendorf Jinwar erzählt. Ich war mir zunächst nicht sicher, ob es der richtige Ort für meinen Sohn und mich sein würde.
Die Weiterbildungsprogramme und die Art, wie die Frauen kollektiv zusammenleben, waren für mich völlig neu. Aber so konnte ich in Jinwar viel lernen. Heute weiß ich: Das Leben ist etwas, das man sich aufbaut, das schön und kreativ sein kann. Unter allen Bewohnerinnen teilen wir uns die verschiedenen Aufgaben: Landwirtschaft, Dorfladen, Bäckerei, Koordination der Dorfgemeinschaft und was sonst noch anfällt.
Mein Sohn geht hier in die Schule. Ihm gefällt der Unterricht, und er ist sehr schlau. Er entwickelt sich gut. Ich hätte ihm vieles von dem, was er hier lernt, nicht beibringen können. Ich wusste nicht, wie man ein Kind erzieht. Aber nun habe ich das Glück, dass wir gemeinsam ein freies Leben aufbauen können.
Ruth, Frauenhilfsorganisation Rakka
Es ist nicht leicht, die Situation der Frauen unter der IS-Herrschaft zu verstehen. Unter dem IS wurden Frauen dazu gezwungen, Schwarz zu tragen und nur voll verschleiert aus dem Haus zu gehen. Für alle Bereiche des Lebens wurden klare Regeln aufgestellt, die die Frau zu einer Ware des Mannes erklärten. Wenn es nur den Anschein hatte, dass eine Frau eine Regel nicht befolgt, konnte es zu Auspeitschungen, Vergewaltigung oder Steinigung kommen.
Mit der Befreiung Kobanês haben auch die arabischen Frauen an Stärke und Selbstvertrauen gewonnen. Es schlossen sich Hunderte, später Tausende der Verteidigungseinheit YPJ an. Die Frauen, die unter dem IS gefoltert und vergewaltigt wurden, traten dann mit der Waffe in der Hand ihren Folterern und Vergewaltigern entgegen.
Mit der Befreiung hat der Aufbau einer neuen Gesellschaft begonnen. Es wurden Räte gebildet, auch autonome Frauenräte. Eines der Ziele ist es, uns in der Gesellschaft selbst zu vertreten, uns selbst zu organisieren und das Zusammenleben gemeinsam zu gestalten. Heute versuchen wir, Lösungen für die Probleme der Frauen in Rakka zu finden und zur Verbesserung ihrer Situation beizutragen. Junge Frauen werden zum Beispiel immer wieder mit anzüglichen Fotos erpresst. Wir als Frauenhilfsorganisation leisten Präventionsarbeit und bieten im Falle einer Eskalation den Frauen Schutz.
Die Schrecken, die die Frauen in Rakka erleben mussten, sind nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Deshalb ist es für mich wichtig, die sichtbaren Veränderungen zu erleben und mich auf diese Arbeit zu konzentrieren.
Ronahî, Deutsche Internationalistin und YPJ-Kämpferin
Die Befreiung von Kobanê 2015 war in der europäischen Linken ein richtig großes Ding und hat viele bewegt. Auf einmal gab es wieder befreite Gebiete in dieser Welt, in denen eine Revolution stattfand, in der es auch um die Befreiung der Frau ging.
Ich habe die Bilder der bewaffneten Frauen gesehen, die gegen den IS gekämpft haben. Ich war begeistert, auch von dem Konzept der Selbstverteidigung. Jedes Lebewesen hat Verteidigungsmechanismen. Die Rose hat zum Beispiel den Dorn. Wenn man sie ausreißen möchte, dann sticht sie. Aber wir Menschen, insbesondere wir Frauen, haben verlernt, uns zu verteidigen.
Ich kam erst nicht auf den Gedanken, dass ich selbst eine dieser Frauen sein könnte. Mit der Zeit wurde mir aber etwas klar: Wenn ich nach meinen Werten leben möchte und wenn ich auf meine innere Stimme höre, ist die klare Konsequenz, dass ich nach Rojava gehen muss.
Zwischen der Entscheidung und meiner Abreise ist noch eine ganze Zeit vergangen. Ich habe mich viel mit dem Tod auseinandergesetzt. Bin ich bereit, dafür zu sterben? Das muss man sein, wenn man zum Kämpfen hierherkommt. Bin ich bereit, mein altes Leben aufzugeben? Was bedeutet das für meine Familie und Freunde?
Als ich schließlich hier ankam, wurde ich militärisch und ideologisch ausgebildet und habe meinen Kampfnamen Ronahî angenommen. Ich habe nur mit Frauen zusammengelebt. Das ist eine wichtige Erfahrung, die bestimmt vielen Frauen guttun würde: mal nicht diesen männlichen Blick auf sich zu spüren, Frausein als gemeinsame Identität zu begreifen, sich nicht immer wieder mit Männern zu verbrüdern. Durch diese Erfahrungen habe ich mich selbst besser kennengelernt.
Xanim, Witwe und alleinerziehende Mutter
Mein Mann ist 2019 bei der türkischen Invasion im nordsyrischen Girê Spî gefallen. Mein Kind war damals erst 19 Monate alt. Natürlich war das eine schwierige Situation. Mir als Mutter und Witwe war wichtig, dass mein Kind gut aufwachsen kann, dass es aber auch versteht, warum die Situation so ist, wie sie ist.
Ich muss mehr arbeiten als andere Mütter, auch um Bedürfnisse meines Kindes zu erfüllen, das in dieser schwierigen Situation ein Kind bleibt. Es braucht gewisse Dinge, möchte bestimmte Sachen haben und vergleicht sich mit anderen um sich herum. Andere Kinder haben Väter und bekommen manchmal etwas von ihnen geschenkt. Das führt natürlich dazu, dass sich mein Kind fragt, warum es keinen Vater hat. Ich versuche dann so gut wie möglich verständlich zu machen, dass wir in einem Krieg und mitten in einer Revolution sind; dass der Vater sein Leben gegeben hat, um das Land zu verteidigen, auf dem wir leben. Es ist wichtig, die Situation hier nicht vor den Kindern zu verstecken.
Ich komme regelmäßig ins Zentrum der Familien der Gefallenen. An diesem Ort kann ich andere Frauen treffen, denen es ähnlich geht. Wir helfen einander, tauschen uns aus und passen auch mal auf die Kinder der anderen auf. Ich bin sehr froh, dass es diesen Ort gibt und ich die Möglichkeit habe, mich mit Frauen zusammenzutun, die in einer ähnlichen Situation stecken wie ich. Außerdem ist es eine Errungenschaft der vergangenen Jahre, dass ich mich nach dem Tod meines Mannes alleine um mein Kind kümmern kann und nicht direkt wieder heiraten muss.
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