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Abhärtung fürs Leben
»Close« ist ein Film über eine Jungenfreundschaft und darüber, was sie zerstören musste
Es gibt, so scheint es, zwei miteinander nur schwer vereinbare Perspektiven auf die Filme des jungen belgischen Regisseurs Lukas Dhont. »Girl«, sein Langfilmdebüt aus dem Jahr 2018, schien mir ein feines, auch schmerzliches Porträt zu sein. In meiner Erinnerung verbindet sich dieser Film über eine sehr junge transgeschlechtliche Tänzerin, die sich geschlechtsangleichenden Maßnahmen unterzieht, mit den pastellenen Ballett-Zeichnungen von Edgar Degas. Aber wo habe ich nur meine Augen gehabt! Denn zu meinem großen Erstaunen lese ich, dass dieser Film heftige Proteste unter Trans-Aktivistinnen ausgelöst habe.
»Girl« sei voyeuristisch, schwelge in Nacktheit, und die Kamera starre förmlich auf die Geschlechtsteile, heißt es. Voyeurismus – nun gut, dazu neigen die meisten Filme. Aber Nacktheit? Geschlechtsteile? Das ist mir alles entfallen, wenn es mir je aufgefallen sein sollte. Die krass unterschiedlichen Ansichten über »Girl« lassen vermuten, dass auch über »Close«, Dhonts neuesten Spielfilm, die Meinungen weit auseinandergehen werden.
Einerseits handelt »Close« von der Liebe zweier 13-Jähriger, die unter dem Druck der Gesellschaft scheitert. Die Geschichte steht also in einem losen Zusammenhang mit einer Feindseligkeit gegenüber Schwulen; die Fachleute sagen: Homophobie. Andererseits sind die Eltern eines der Jungen, Léo (Eden Dambrine), nicht umsonst Blumenzüchter. Denn ihre Blumenfelder geben der stets mit den Kindern dahinstürmenden Kamera die Möglichkeit, ganze Büschel von bunten Flecken zu erzeugen. Die Kamera (Frank van den Eeden), die sich unentwegt an die Darsteller hängt und uns kaum je eine Totale gönnt, löst die Bilder in Wolken von Rot, Gelb, Violett auf. Statt der Pastelltöne von Degas nun also die kräftigen Farbkonglomerate von Paul Signac oder Berthe Morisot (Art Director: Eve Martin).
Es sollte an sich möglich sein, beide Sichtweisen, die soziologische und die sinnliche, miteinander zu verbinden, denn steril voneinander trennen lassen sie sich sowieso nicht. Auch wenn die sinnliche Lesart in Gefahr steht, schöngeistig zu werden, hat sie doch das Gute, sich gegen Begriffe, vor allem voreilige, zu sträuben. Sie stellt die Frage: Sind die beiden Jungen tatsächlich schwul? Immerhin befinden sie sich noch nicht in der Pubertät. Und von Nacktheit, Geschlechtsteilen und dergleichen ist diesmal wirklich nichts zu sehen.
Es ist wahr, Léo und Rémi (Gustav De Waele) sind unzertrennlich, sie verbringen ihre Tage und ihre Nächte miteinander, sie entschweben gemeinsam in Fantasiewelten. Léo macht dazu gern ein zischendes Geräusch, das an eine Windböe erinnert. Die Böe erfasst sie, hebt sie empor und befördert sie in ferne Länder, wenn nicht auf den Mond. Einer ihrer Pläne ist, dass Léo, der Rémis Oboenspiel sehr bewundert, zu dessen Impresario wird und dass sie »superreich« werden. Doch dann kommen die beiden in eine neue Schulklasse.
Was unbestimmt und unschuldig war, wird nun bestimmt und mit Hohn beladen. »Seid ihr ein Paar?«, fragen Mitschülerinnen, denen der innige Umgang der beiden aufgefallen ist. Und wie man sich denken kann, wird Léo bald schon als »Schwuchtel« beschimpft – von einem Mitschüler mit Dreadlocks, der Junkfood liebt. Das ist ein Klischee.
Auf das Klischee folgt eine überaus originelle Wendung. Der schmächtige Léo, der sich bislang als der Empfindlichere von beiden zeigte, als Träumer und Schwärmer, als derjenige, der seinen begabten Freund mit Blicken schier zu verschlingen schien, gibt dem äußeren Druck sofort nach und verstößt den Geliebten. Mehr noch, um zu beweisen, dass er unterwegs zu echter Männlichkeit ist, beginnt er mit einem harten Sport, Eishockey. Angefeuert von einem derben Trainer, schlägt er sich mit den anderen Jungen. Rémi reagiert auf diesen Verlust mit dem extremsten Akt, der denkbar ist; welcher, sei nicht verraten.
Wenn ein Gedankenspiel erlaubt ist, hätte die Geschichte auch anders ablaufen können: Zwei Jungs, die als begeisterte Hockeysportler wie Pech und Schwefel zusammenhalten, werden wegen ihrer gemeinsamen robusten Vorliebe und ihrer körperlichen Nähe scheel angesehen. Daraufhin lässt einer der beiden den andern im Stich und widmet sich fortan dem edlen Oboenspiel. Dieser Plot wäre vielleicht interessanter gewesen, aber es ginge mit ihm ein wichtiger Aspekt verloren: die Abhärtung.
Nun ist es so: Der Junge, der zuvor in Blumenfeldern mit seinem Herzensfreund umhertollte, tritt plötzlich auf einer kalten Eisbahn in martialischer Rüstung auf. Das ist eine sehr plastische Art zu verdeutlichen, was die kapitalistische Gesellschaft dem Einzelnen abverlangt, nämlich eine Unterdrückung alles Utopischen, Schöpferischen, auch Erotischen. An deren Stelle tritt die Härte gegen sich selbst und andere.
Subtil gestaltet Dhont das Ende der Freundschaft zwischen Léo und Rémi: In Zeiten größter Verbundenheit stellen sie sich vor, es wäre jemand hinter ihnen her – 80 finstere Ritter. Als dann tatsächlich, wenn nicht die Ritterschaft, so doch wenigstens ihre Schulklasse hinter ihnen her ist, lässt sich das Spiel nicht mehr fortsetzen; es ist zum Ernst geworden. »Lass uns nach Hause gehen«, sagt Léo. In dieser Nacht wird er nicht neben Rémi schlafen.
Die beiden kindlichen Schauspieler sind derart gut, dass die Profis Mühe haben, neben ihnen zu bestehen. Émilie Dequenne als Rémis Mutter ragt heraus – diese ist Pflegerin auf einer Geburtsstation und verhilft auch Léo zur Geburt in ein neues Leben. Die Zuschauerinnen und Zuschauer ahnen, dass es ein wesentlich banaleres Leben sein wird, ein besser angepasstes. Es ist nicht möglich, ohne Bitterkeit festzustellen: »Dieser Junge hat bewiesen, dass er seinen Weg machen wird.« Erwachsenwerden heißt bei uns, die Liebe abzutöten, und das hat sich nicht Léo ausgedacht.
»Close«, Belgien/Frankreich/Niederlande 2022. Regie: Lukas Dhont; Buch: Lukas Dhont, Angelo Tijssens. Mit: Eden Dambrine, Gustav De Waele, Émilie Dequenne, Léa Drucker. 105 Min. Jetzt im Kino.
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