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Als Familie alleingelassen
Ehemalige Pflegeeltern erheben Vorwürfe gegen das Jugendamt in Pankow
Kürzlich rief das Jugendamt Pankow den »Tag des Pfützenspringens« aus. Pfützenspringen, eines der größten Kindervergnügen, wird – weil es dabei in der Regel ordentlich »matscht« – hier sinnbildlich verwendet für einen Vorgang, den die Behörde aktiv bewerben will. Es geht um die Suche nach Menschen, die sich vorstellen können, ein Pflegekind aufzunehmen. Das Jugendamt lädt ein zu Kennenlern-Treffen zwischen Erwachsenen und Kindern, für die eine Pflegefamilie gesucht wird. Wenn es dann »matcht« (auf Englisch: zusammenpasst), hilft die Behörde nach eigener Aussage dabei, einen Prozess zu beginnen, an dessen Ende stehen soll, wofür Pflegefamilien gedacht sind: einem Kind vorübergehend oder dauerhaft Wärme, Geborgenheit, Förderung und eine kontinuierliche Erziehung geben.
Solche Ankündigungen klängen in ihren Ohren wie Hohn, sagt Claudia Kerns zu »nd«. Für die Pankowerin verbindet sich mit dem Thema Pflegekind eine über die Maßen schmerzhafte Erfahrung, die laut ihr unmittelbar auf die sie betreuende Stelle des Pankower Jugendamts zurückgeht. Ein Jahr lang haben ihr Partner und sie bis zum Sommer 2020 den Standardprozess der Behörde zur Anerkennung als Pflegeeltern durchlaufen. Über einen Zeitraum von drei Monaten treffen sie dann ihr potenzielles zukünftiges Pflegekind, den siebenjährigen H., der als Kleinkind aus dem Irak mit A., der als sein Vater angesehen wird, nach Berlin gekommen war. Bis H. im April 2021 bei dem Paar einzieht, wohnt er in einem Kinderheim der Caritas.
A. lebt bis heute in einem Flüchtlingsheim. Die Pflegeeltern setzen sich dafür ein, dass die beiden sich einmal im Monat sehen können, auch zu einem Freund des Jungen aus dem Kinderheim versuchen sie den Kontakt zu halten. Schon das sei vom Jugendamt nicht unterstützt worden, sagt Claudia Kerns. Zwar verlaufen Eingewöhnung und Bindungsaufbau zwischen Pflegeeltern und H. gut, aber das Paar gerät untereinander in Konflikt und an Grenzen in seiner Beziehung. Man sei sich uneins gewesen über den Erziehungsstil, sagt Kerns. Zumal der Junge viel Energie und Aufmerksamkeit beansprucht habe.
Dem Paar fehlte es an Unterstützung und Begleitung durch das Jugendamt. »Sie wuppen das schon«, habe ihr die Betreuerin des Pflegedienstes mit auf den Weg gegeben, erinnert sich Kerns. Und dann: kam nichts mehr. Nach einem halben Jahr wenden sie und ihr Partner sich an die Behörde, die Lage sei so zerrüttet, dass sie darum bitten müssten, für den Jungen eine andere Lösung zu finden. Daraufhin reagiert das Amt und bietet eine Supervision an.
Zu spät für Claudia Kerns. Aber sie wünscht sich für H. eine gute Erziehungsstelle, bietet an, diese zu suchen und bittet um weiteren Kontakt zu dem Kind. Auf diese Angebote habe die Behörde abweisend bis gar nicht reagiert, sondern es in den Augen von Claudia Kerns darauf ankommen lassen, dass H. wieder in die Heimunterbringung kommt. »Dies wäre angesichts der erheblichen Entwicklungsfortschritte, die H. seit der Unterbringung bei den Pflegeeltern gemacht hatte, eine Katastrophe gewesen«, schreibt Kerns in ihren Unterlagen, ihrer »Chronologie der Ereignisse«. Die zuständige Sachbearbeiterin hatte das Kind zu dem Zeitpunkt seit Jahren nicht gesehen, heißt es darin. Für die Einschätzung der Pflegeeltern habe sie sich nie interessiert, ihre Vorschläge für Erziehungsstellen ignoriert. Stattdessen habe die Sachbearbeiterin ihnen zur Kenntnis gegeben, »wie die Verwaltung hier funktioniert«, zitiert Claudia Kerns.
Ihr Partner und sie ziehen eine Rechtsanwältin hinzu. Während das Amt in einem Gespräch weiter auf die Zuweisung des Kindes in die Familie drängt, findet das Paar eine passende Erziehungsstelle in einer Wohngemeinschaft in Falkensee. Sie kümmern sich Anfang 2022 um den Umzug von H. und erhalten von der Leitung der Einrichtung die Zusicherung, dass zur Aufrechterhaltung der Beziehungsbindung regelmäßiger Kontakt möglich sei.
Das Jugendamt sieht das allerdings anders. Die Behörde will den Umgang auf maximal zwei Stunden alle vier Wochen begrenzen, drei Monate ab Einzug solle der Junge das Paar überhaupt nicht sehen. Auf Wünsche des Kindes, mit dem Paar ein Wochenende oder Ferien zu verbringen, was diese gern ermöglichen würden, wird nicht eingegangen. Dem Paar gegenüber habe es seitens der Einrichtung geheißen: »Dafür muss ein Antrag beim Jugendamt gestellt werden.« Die Betreuerin habe auch gesagt, dass der Junge diese Wünsche ihr gegenüber nicht erwähnt habe. Weil die Eltern einige Wochen zuvor den Jungen angeblich zu spät von einem Treffen zurückgebracht hatten, wurde im September 2022 eine Konferenz einberufen. Diese hat zum Ergebnis, dass der Regelverstoß als ausschlaggebend für einen Abbruch des Umgangs zwischen H. und den ehemaligen Pflegeeltern angesehen wird.
Sie selbst habe eine Vormundschaft angeboten, sagt Claudia Kerns, und H. habe einen Brief an das Jugendamt geschrieben, in dem er um Kontakt bittet. Keine Reaktion. Aufgrund der traumatischen Fluchtgeschichte und eines mutmaßlichen sexuellen Übergriffs im Caritas-Heim hatte sich das Paar um einen Platz in der Traumaambulanz der Charité bemüht, erklärt Kerns. Als der Therapieplatz frei wird, zieht H. gerade in die neue Wohngruppe. Die leitende Erzieherin erklärt, sie habe keine Traumatisierungs-Symptome erkennen können. Claudia Kerns ist fassungslos: Zu diesem Zeitpunkt habe H. gerade wenige Tage in Falkensee gelebt. Das Angebot für kinderpsychologische Schulungen, habe es ihr gegenüber von der Traumaambulanz geheißen, werde von Jugendämtern nicht angenommen. »Wir können nichts für das Kind tun«, sagt Kerns. »Es ist nicht möglich, Kritik anzubringen.« Sie fühle »Ohnmacht und große Traurigkeit« ob der Weigerung der Behörde, »Kindeswohl über Verwaltungsabläufe« zu stellen, erklärt sie.
»Natürlich ist die Wahrnehmung von Betroffenen eine ganz eigene«, sagt die Rechtsanwältin des Paares im Gespräch mit »nd«. Dennoch sei sie als juristische Vertreterin von Berliner Pflegeeltern immer wieder mit ähnlichen Erfahrungen konfrontiert. »Bei der Jugendamtsstelle in der Neuen Schönhauser Straße lande ich immer wieder«, sagt die Juristin. »Der Umgang mit Pflegeeltern ist dort katastrophal.« Pflegefamilien träfen dort auf mangelnde Wertschätzung in »verfestigten Behördenstrukturen«, die es in anderen Stellen des Bezirks wie der Fröbelstraße oder der Berliner Straße so nicht gebe. »Manchmal sind es Einzelpersonen, die sich eventuell auch aus Unsicherheit heraus anmaßen, Entscheidungen zu treffen, für die eigentlich ein Familiengericht zuständig wäre«, sagt die Vertreterin von Claudia Kerns. Auf Landesebene gibt es zunehmend die Erkenntnis, dass das Pflegekinderwesen überarbeitet werden muss, unter anderem geht es auch um mehr Wertschätzung für Pflegeeltern. Was der Fall der Familie Kerns zeige, sei das Gegenteil von dem, was man eigentlich erreichen will, Pflegeverhältnisse bräuchten Kontinuität und individuelle Spielräume.
»Viele Kinder sind verhaltensauffällig, da braucht es Zeit zum Durchatmen und Beratung«, so die Rechtsanwältin. Wenn vor diesem Hintergrund die aufgebauten Beziehungen wieder abgebrochen werden, erlebten das die Betroffenen nachhaltig als Scheitern. »Dabei zeigt jede normale Bindungsforschung: Beziehungen helfen allen Menschen und zunächst natürlich vor allem Kindern, resilienter zu werden«, fasst es die Juristin zusammen. »Jugendhilfe soll doch ein Unterstützungsangebot sein.«
Eines, was über die Maßen dringend benötigt wird. Berlin ist das Land mit dem größten Bedarf an Pflegefamilien bundesweit. Aber nicht nur das Pflegegeld ist seit über zehn Jahren nicht erhöht worden. Die Zahl von Kindern, die familiäre Unterbringung suchen, steigt zudem – auch angesichts vieler junger Menschen auf der Flucht vor Krieg und Krisen. Die Kapazitäten für eine Unterbringung in Wohngruppen über Jugendämter oder freie Träger reichen einfach nicht aus.
Dies sei vor allem seit 2015/16 der Fall, sagt Katharina Günther-Wünsch (CDU) zu »nd«. Die bildungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion im Abgeordnetenhaus kennt den Fall von Claudia Kerns ebenfalls. Er stehe stellvertretend für strukturelle Probleme, sagt Günther-Wünsch. »Noch in vier von zwölf Berliner Bezirken ist das Jugendamt für die Vermittlung von Pflegekindern zuständig, in den anderen regeln Freie Träger die Unterbringung.« Vor allem in den Behörden herrsche oft ein akuter Mangel an Professionalisierung und Qualifizierung des zuständigen Personals, was sozial-rechtliche Ansprüche von Pflegekindern und Pflegefamilien betrifft, erklärt Günther-Wünsch. Zudem fehle es häufig an Empathie für deren Sorgen, Nöte und Probleme. Dazu komme hohe personelle Fluktuation in den Ämtern. »Ständig wechseln die Sachbearbeiter, immer wieder gerät alles ins Wanken. Die Menschen müssen immer wieder von vorne anfangen«, kritisiert sie.
Für die Mitarbeiter*innen in Jugendämtern gibt es zudem bei Weitem nicht ausreichend Gesundheitsprävention zum Beispiel durch eine regelmäßige Supervision. Schon seit Jahrzehnten klagen die Ämter über Personalnot, weil engagierte Beschäftigte aufgrund von Druck und Belastung den Weg in die Berufsflucht antreten. Bei freien Trägern ist zumindest für Beratung und Begleitung von Fachkräften und Eltern besser gesorgt, meint Günther-Wünsch: »Hier ist man auch deutlich schneller bei Krisenintervention, hier wird gefragt: Was brauchen sie?«
Andererseits, erklärt sie, müssen Freie Träger den gesamten Prozess mit festgelegten Fallpauschalen bewältigen, deren Betrag oft genug nicht ausreicht. »Vielen Pflegefamilien wäre doch allein schon durch einen Familientherapeuten geholfen«, erklärt Günther-Wünsch. Unter den Kindern seien viele Kriegs- und Fluchttraumatisierte: »Natürlich tragen die ein enormes Paket.« Da seien auch die mittlerweile 11 000 ukrainischen Kinder und Jugendlichen zu bedenken, die seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor knapp einem Jahr nach Berlin gekommen seien.
Der Bezirksstadtrat für Jugend und Familie, Cornelius Bechtler (Grüne), will den Vorwurf, Mitarbeiter*innen seiner Behörde würden Verwaltungshandeln über Kindeswohl stellen, nicht stehen lassen. »In allen Fällen, mit denen ich mich bisher auseinandergesetzt habe, stand für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes immer das Kindeswohl im Zentrum ihres Handelns«, erklärt der Stadtrat gegenüber »nd«. Man gewährleiste Pflegeeltern im gesamten Prozess pädagogische Angebote. Bechtler weist darauf hin, dass »trotz aller Bemühungen und Unterstützungen in Einzelfällen das reale Bild nach Vermittlung in eine solche Hilfe nicht dem Wunschbild einer Pflegebeziehung« entspreche. Häufig sei die Brisanz des Erlebten von Pflegekindern in ihren Herkunftsfamilien ein Grund dafür, dass Pflegeverhältnisse scheitern. »Die Überforderung mit dem Pflegekind und dessen Gewalterfahrungen in seinem bisherigen Leben resultiert dann, im Interesse des Kindes, in der Beendigung des Pflegeverhältnisses.«
Die Pflegeerlaubnis bestehe aber weiterhin: »Nach Prüfung im Einzelfall kann dem Wunsch nach Beratung und Begleitung zu einer Überleitung nach Beendigung eines Pflegeverhältnisses von der zuständigen Fachkraft und den Sorgeberechtigten entsprochen werden.« Häufig würden die Pflegeeltern in die Suche nach einer geeigneten Nachfolgeunterbringung einbezogen. Hierbei werde insbesondere viel Wert auf vorhandene Bezugssysteme gelegt. Besuchsumgänge würden unter Berücksichtigung der Lebensumstände des Kindes gemeinsam erarbeitet.
Katharina Günther-Wünsch kritisiert: »Das System beruht komplett auf der falschen Perspektive. Gesprochen wird nur zwischen Erwachsenen; die Kinder werden nicht gefragt, was sie brauchen.« Aber nur das, sagt sie, ermögliche wirklich gute Familienarbeit und gute Jugendsozialarbeit. Das Bewusstsein darüber wachse zwar. Auf Landesebene habe man erkannt: »Es braucht ein völlig neues Schutzkonzept.« Aber das hilft Claudia Kerns, ihrem Mann und dem mittlerweile neunjährigen H. weder für den Moment noch für das, was ihnen an Kontakt und Beziehungsarbeit bereits verloren gegangen ist.
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